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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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und – Bonaparte!«
    Â»Das ist wahr, zum Teufel, Gott segne Sie!« rief der andere
Offizier, sprang auf und stieß sich den Kopf am Decksbalken.
    John fand das überflüssig. Er mißbilligte es.
    Die Franzosen sollten von England wegbleiben, das war alles.
    Der Mannschaft nach war die Bellerophon ein irisches Schiff und kein englisches. In vielen Schlachten hatte sie mit
vierundsiebzig Kanonen für Lärm und Tod gesorgt, ein berühmtes Schiff. Warum so
viele Matrosen Iren waren, wußte niemand. Bei den Seeleuten hieß sie »der
Raufbold« oder »der Grobian«. Im Jahre 1786 war sie widerborstig genug gewesen,
sich selbst verfrüht vom Stapel zu lassen, notgetauft mit einer halben Flasche
Port. Die Bellerophon war aufs Jahr so alt wie John.
Auch Matthew hatte auf ihr als Midshipman gedient. Die Galionsfigur war ein
zähnefletschender Teufel, sicher wieder ein Grieche wie der Einäugige am Bug
der Polyphemus, und ohne Arme wie dieser.
    Das war nun wirklich ein anderes Schiff als die Investigator! Dickes Holz überall, schweres Tauwerk, weite Wege, zahllose Menschen,
rotröckige Soldaten und sogar einige blaugekleidete, die mit den Feldkanonen zu
tun hatten. Blaue wie Rote exerzierten täglich an Deck, die armen Kerle.
Mitleidig und verächtlich sah die Mannschaft zu, wenn sie sich im Takt zu
»Laden und Sichern«, »Rechts um« und »Kehrt marsch« bewegten. Nur die australischen
Eingeborenen hatten sich am Trommeln und Marschieren wirklich freuen können.
Zuletzt hatten sie mit ihren Stöcken mitexerziert und aus den vielen Wendungen
und Rucken bald einen Tanz gemacht. John nahm sich vor, die Menschheit zu
beobachten. Wenn sie lernte, mußte etwas davon zu merken sein.
    In der Mannschaft und unter den gemeinen Soldaten war kaum einer,
den man nicht mit Alkohol und Prügeln zum Dienst gepreßt hatte. Einige Frauen
gab es, die waren freiwillig da, vielleicht aber doch gezwungen von ihren Männern.
Sie wohnten mit im Unterdeck, trugen Hosen und sahen aus wie jeder andere Seemann.
Niemand sprach darüber, und etwas, worüber man nicht sprach, war nicht da. Auf
einem irischen Schiff, das selbst nur als englisches verkleidet war, konnte das
niemanden erstaunen.
    Wohin ging es? Nach Brest, sagte man. Blockade eines
Hafens – ein endloses Geschäft. Alle waren schlechter Laune, von den Gepreßten
gar nicht zu reden.
    Die Fähnrichsmesse lag unter der Wasserlinie im Orlop. Die Luft war
dort zum Schneiden. Auf dem Tisch Zigarren, Grog, Kuchen, Käse, Pfeifen, Messer
und Gabeln, eine Flöte, Gesangbücher, Teetassen, ein Rest Schweinefleisch und
eine Schiefertafel. Darum herum: Langeweile und Schlägereien aus Langeweile,
ferner die weisen Sprüche des neunzehnjährigen Bant, der alles zu wissen
glaubte. »Die Weiber um dreißig herum sind die besten!« Solche Dinge pflegte er
zu verkünden. Er kam aus einem Dorf bei Devonport, wo man gewiß froh darüber
war, daß er sich für die Flotte entschieden hatte. »Die um dreißig wissen
Bescheid. Sie haben alles, was die Zwanzigjährigen auch haben, und man
verplempert keine Zeit! Die um vierzig sind oft sogar noch besser!« Walford,
der Älteste der Messe, blies den Rauch in die Luft. »Halt jetzt das Maul!« Und
nach einer Weile: »Das hat dir wieder jemand erzählt. Ein Siebzigjähriger vermutlich.«
Bant wurde wütend, aber bevor er etwas sagen oder tun konnte, kriegte er die
Flöte über die Finger, daß er vor Schmerz wie gelähmt dasaß. So schnell war Walford.
Außerdem hatte der Älteste immer recht, das gehörte zu den Prinzipien, die es
gegen Napoleon zu verteidigen galt.
    Für John begann das Elend mit der Langeweile der anderen. Wer
Grausamkeit nicht gelernt hatte, mußte wenigstens frech werden können. In den
ersten Wochen wurde John von beinahe niemandem respektiert. Aber er verlor
nicht die Zuversicht. Er wußte, daß sich seine Lage ändern würde. Einer fragte
ihn ab und zu um Rat: Simmonds, der jüngste, der direkt von zu Hause kam.
    Manchmal dachte John an die Zukunft. Was tat einer wie er, wenn der
Krieg aus war? Ein Midshipman ohne Schiff bekam nicht einmal den Halbsold. Mit
Sherard in Australien siedeln? Aber wo ihn suchen? John gehörte jetzt schon zu
den Älteren. Simmonds war vierzehn, Henry Walker sechzehn Jahre alt.
    Den ganzen Herbst und Winter nur das Kreuzen vor Brest! Einer

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