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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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wie
John hielt das aus. Er lernte den neuen Signalcode und las alle Bücher, die er
in die Finger bekam.
    Der Krieg würde zu Ende gehen. Er wollte versuchen, zur Ostindischen
Kompanie zu kommen.
    Mit Simmonds hatte er Mitleid. Wenn Walford abends die Gabel
feierlich in den Tisch rammte, wie es der Brauch war, dann mußten die Jüngeren
die Messe verlassen und in die Koje gehen. Es hieß, sie wüchsen noch und
brauchten mehr Schlaf, aber das war nur ein Vorwand, der wahre Zweck war, sie
zu demütigen. Wenn Simmonds den Wachantritt verschlief – das geschah leicht,
denn er wohnte beim Stückmeister im Unterdeck –, dann pflegte Bant ihn
aufzusuchen und von unten aus der Hängematte zu drücken, bis er fiel. Der
Kleine hatte Beulen und Schrammen wie einst John. Er erntete auch sonst viel
Spott. Die simpelsten Dinge mußte er noch lernen. Er wußte nicht einmal, wie
man einer Trosse einen Hundspünt aufsetzte. Das lag auch an ihm, er ließ es an
Ernst fehlen. Statt zu lernen, erzählte er von seinem Hund in Berkshire. Er war
ein freundlicher, leichtlebiger Bursche, immer angenehm und zuversichtlich,
aber die Winde für das Anbrassen der Großrah suchte er beim Fockmast. John
hielt ihn fest: »Du mußt einfach überlegen! Sie kann nur beim Kreuzmast
stehen!« Er erklärte ihm auch kompliziertere Dinge. Im Lauf der Zeit merkte er,
daß selbst die Älteren weniger wußten als er. Nichts hatte er je vergessen,
sein Kopf war wie eine wohlgefüllte Scheune. Erst ärgerten sie sich darüber. Er
ließ sich aber nicht davon abhalten, sein Wissen weiterzugeben, denn er hielt
das für seine Pflicht, wenn es bei anderen fehlte. Nach einem halben Jahr
kannten ihn alle gut genug. Er wurde respektiert, wie er es erwartet hatte. Bei
wichtigen Vorgängen wurde er gefragt und bekam Zeit zur Antwort. Mehr kann ich
nie erreichen, dachte er. Ein Fehler blieb: es war Krieg.
    Der Winter war vorbei. Endlich weg von Brest! Es kam ein
neuer Kapitän, James Cooke, ein kahlköpfiger, schlanker Mann mit gespaltenem
Kinn. Er sah fast so edel aus wie Burnaby und lächelte viel. Cooke war ein Mann
Nelsons durch und durch und verstand etwas vom Anfeuern. Noch war Nelson weit
weg, er jagte hinter einem Teil der französischen Flotte her. Aber Cooke
verwandelte das Schiff schon jetzt so, als stünde der Admiral neben ihm auf dem
Poopdeck. Er hielt Reden über Tod, Ruhm und Pflicht und verband das mit großer
Freundlichkeit. Jedem hörte er gut zu, aber ohne eindeutig zu reagieren.
Vielleicht tat er nur so, als ob er zuhörte, aber alle fühlten sich von ihm in
einem höheren Sinne wahrgenommen. Es war, als breche ein Zeitalter der Freiheit
und Güte an: Bant maulte nicht mehr, Walford half und ermunterte, alle
versuchten, besser zu werden. Das bewirkten allein die Worte eines Kapitäns!
Nur John horchte vergebens in sich hinein: »Ich merke noch nichts!« Bei dem
Wort »Ruhm« hatte er besonders starke Zweifel. Ruhm: man wollte die bessere
Seite sein. Es gab aber keine Sicherheit, wer in einer Schlacht die bessere
Seite war. Überhaupt war durch den Tod nichts zuverlässig zu beweisen. John
hielt im Inneren seines Kopfes eine eigene Rede. Die Zunge bewegte er hinter
den geschlossenen Lippen. Über den Ruhm war er sich bald im klaren. Bei »Ehre«
hingegen hielt er die Zunge still und überlegte hin und her. Ehre gab es. Was
sie genau war, mußte er noch mehr erforschen.
    Die Bellerophon fuhr nach Cartagena in
Spanien. Die Galionsfigur wurde neu bemalt. Nelson selbst kam auch. Ein zarter,
entschiedener Herr, und auch er verstand zu lächeln. Als er der Mannschaft der Bellerophon gegenüberstand, sprach er im Flüsterton und
fast bittend. Er schien ein Mann voller Liebe zu sein – Liebe zum Ruhm und zu
seiner eigenen Sorte. Und so gab es bald niemanden mehr, der nicht von Nelsons
Sorte sein wollte.
    Â»Mich steckt es nicht an«, sagte John. Dieser Nelson schien ganz
sicher zu sein, daß alle das tun würden, wofür er sie liebte, und sie taten es
auch. Er liebte Verrückte, und so schien es verlockend, verrückt zu werden für
England. Plötzlich waren die gepreßten Seeleute und die geschundenen Soldaten
zum Heldentum entschlossen. Sie glaubten jetzt zum Höchsten zu gehören, was die
Erde hervorgebracht hatte. Sie mußten es nur noch zeigen. Die Ehre
verpflichtete jeden, das zu tun, wofür er schon

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