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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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ein Wunder
ist? Eine Wiese, die immer schmaler wird, je mehr Mäuler sie abgrasen!«
    Â»An Wunder glaube ich nicht«, meinte John, »das ist etwas für
Kinder.«
    Der Schäfer trank aus und wurde wieder rebellisch.
    Â»Irrtum! In der Ökonomie fängt das Staunen mit dem Denken erst an.
Aber du bist ja ein Held geworden! Schickst du wenigstens Geld nach Hause?«

Neuntes Kapitel
    Trafalgar
    Dr. Orme sah John verblüfft an, ohne etwas zu sagen. Dann
stand er auf und freute sich. »John!« rief er, und seine Wimpern schienen dem
Gehirn Luft zuzufächeln. »Ich habe auf dich gewartet. Aber Hoffnung hatte ich
kaum noch.«
    John wunderte sich selbst über die Nüchternheit, mit der er jetzt
seinen alten Lehrer betrachtete. Ich bedeute ihm etwas, dachte er, das paßt
gut, ich glaube, ich mag ihn auch noch.
    Sie setzten sich an den Gartentisch hinter dem Haus am Gebrochenen
Genick. Es entstand eine Pause, denn sie wußten nicht so recht, wie sie
anfangen sollten. Dr. Orme erzählte eine »kleine Geschichte zur Auflockerung«.
Er war eben ein richtiger Lehrer.
    Â»Achilles, der schnellste Läufer der Welt, war so langsam, daß er
keine Schildkröte überholen konnte.« Er wartete ab, bis John die Verrücktheit
dieser Behauptung ganz begriffen hatte. »Achilles gab der Schildkröte einen Vorsprung.
Sie liefen zur gleichen Zeit los. Als er an ihrem Anfangspunkt eintraf, war sie
schon an einem neuen. Er lief nun dorthin, aber als er ankam, war sie abermals
weitergekrochen. So ging es unzählige Male. Der Abstand verringerte sich, aber
er holte sie nie ein.« John kniff die Augen zusammen und überlegte. Schildkröte?
dachte er und sah auf den Boden. Er betrachtete Dr. Ormes Schuhe. Achilles? Das
war doch etwas Ausgedachtes. Der Lehrer mußte lachen. Einer seiner kleinen
schiefen Schneidezähne fehlte jetzt.
    Â»Gehen wir erst einmal hinein«, sagte er, »ich bin inzwischen in der
Erforschung der Natur etwas weitergekommen.« Drinnen sperrte er eine Kammertür
auf. Da faßte ihn John am Arm:
    Â»Das mit dem Wettlauf kann nur die Schildkröte erzählt haben!«
    In der Kammer stand ein sorgsam gebauter kleiner Apparat, eine
Scheibe, die sich um eine Querachse drehte, wenn man die Kurbel bewegte. Auf
der Vorder- und Rückfläche war je ein Gesicht aufgemalt, vorn ein Mann zur Linken,
hinten eine Frau zur Rechten. Wenn sich die Scheibe drehte, erschienen sie
abwechselnd. »Das kenne ich vom Jahrmarkt«, sagte John, »am Sonntag Jubilate
vor sechs Jahren.«
    Â»Die Kurbel baute mir der Wagenschmied«, erklärte Dr. Orme, »und das
Zählwerk der Uhrmacher. Bei schneller Drehung werden Harlekin und Colombine zum
Paar vereinigt.« Er sah in ein kleines Buch und las vor: »Meine eigenen Augen
lassen sich schon bei 710 Umdrehungen täuschen. Beim Kirchendiener Reed müssen
es 780 sein, bei Sir Joseph, dem High Sheriff, 630, bei meinem faulsten
Lateinschüler 550 und bei meiner schnellen Haushälterin 830 Umdrehungen!« John
bemerkte eine kleine Sanduhr, die an einem Hebel des Zählwerks angebracht war.
»In welcher Zeit?« »Innerhalb von sechzig Sekunden. Setz dich bitte. Ich drehe
die Scheibe immer schneller, bis du deutlich das Pärchen siehst. Dann halte ich
diese Geschwindigkeit und drehe die Sanduhr um. Damit schalte ich gleichzeitig
das Zählwerk ein.«
    Vorsichtig begann der Lehrer zu kurbeln, er sah John gespannt an,
der Mechanismus schnarrte immer heller. »Jetzt!« sagte John. Die Zahlenrädchen
liefen. Das Einerrad rückte nach jeder Umdrehung mit einer Noppe am Zehnerrad,
und dieses auf gleiche Weise am Hunderter. Als die letzten Körner fielen,
drehte Dr. Orme die Sanduhr wieder um, und das Zählwerk stand. Feierlich sagte
er: »330! Du bist der Langsamste.« John freute sich. Seine Besonderheit war
erwiesen.
    Â»Das ist eine sehr wichtige Verschiedenheit der Menschen«, sagte Dr.
Orme. »Diese Entdeckung wird noch viel Nutzen bringen.«
    Am Nachmittag ging Dr. Orme zum Unterricht ins Schulgebäude hinüber.
John kam nicht mit. Er fürchtete, er müsse dann vor den Schülern über seine
Erlebnisse berichten. Was ihn bewegte, hätten sie nicht verstanden, und nach
dem Munde reden wollte er niemandem. Er ging lieber zu seinem alten Baum. Auch
der war ihm recht fremd. Aber er brauchte keinen Baum mehr, er hatte jetzt

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