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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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gelobt worden war. Ehre war
eine Art nachzuliefernder Beweis.
    Â»Welchen Widerstand findet ein Säbel im menschlichen Fleisch und an
den Rippen? Wie stark ist eine Herzwand?« Das wollte der vierzehnjährige
Simmonds wissen. »Du mußt es nur wollen, dann geht es spielend!« versicherte
ihm der sechzehnjährige Walker. Sie fühlten alle viel Kraft und sehnten sich
nach einer angespannten Situation mit Tod und Entsetzen, um zu sehen, ob sie
mit Ruhe oder Übermut darüber hinwegkämen. Jeder, der es noch nicht erlebt
hatte, wollte es wissen. Es kamen ja immer neue, John fühlte sich alt. Scharf
beobachtete er den jungen Simmonds, denn er hätte gern herausbekommen, wie
schnell dessen patriotische Begeisterung zunahm, ob sie abends stärker war als
morgens und ob sie mehr von innen kam oder mehr von außen.
    Die französischen und spanischen Schiffe lagen noch im Schutz der
Batterien von Cadiz. Die Bellerophon segelte hin, die
ganze Flotte traf dort zusammen. Eines Abends sagte John in der Messe: »Mit
dreihundertdreißig Umdrehungen pro Minute bin ich für Gefechte nicht geeignet!«
Sie hörten das nicht gern.
    Â»Ich glaube nicht, daß du ein Quäker bist, Franklin!« sagte Walford.
»Aber an Leidenschaft läßt du es fehlen!« Was ein Quäker war, wußte John sehr
gut, denn auf einem Schiff kannte er alles: Quäker waren Attrappen, die man zur
Geschützpforte hinaussteckte, wenn die Kanonen repariert oder an Land gebracht
wurden. Eine Attrappe wollte er nicht sein. Bei der Arbeit gab er sich jetzt
doppelt Mühe. Er war auch wieder Signalfähnrich. Er beherrschte alle Regeln,
alle Fehler und deren Korrekturen. Er wollte so gut sein, daß niemand die Leidenschaft
vermißte.
    Einen Leutnant hörte er sagen: »Der edelste Gedanke der Menschheit
ist, sich zu opfern. Wir gehen nicht in die Schlacht, um zu töten, sondern um
unser Leben für England aufs Spiel zu setzen!« Das wären kostbare Sätze für das
Phrasenheft gewesen, wenn John noch eines besessen hätte. Der Leutnant blickte
beim Sprechen durch die Zuhörer hindurch. In seinem Gesicht zeigte sich eine
Art furchtsamer Zufriedenheit, als denke er: Noch ist alles da, noch ist alles
klar, noch habe ich keinen Fehler gemacht.
    Vom Mut wurde viel geredet. Wenn Worte weit genug reichten, würden
die Männer diesen Mut auch in der Schlacht haben. Und viele wollten auch
befördert werden, weil sie glaubten, sie würden dann in der Zeit nach dem
Heldentum nicht mehr gequält. Und sie dachten auch daran, daß von tausend Mann
Besatzung im allgemeinen nicht mehr als zwei- oder dreihundert fielen und daß
es auch aus brennenden und sinkenden Schiffen stets Überlebende gab.
    Die englische Flotte lag jetzt südwestlich von Cadiz, der Morgen
brach an. Frühstück, Rumration, Klarschiff. Bant setzte die Tasse ab: »Eine
glorreiche Zeit! Und wir dürfen mit Nelson sein!« Er redete also auch schon so.
Aber obwohl er inbrünstig blickte wie ein Hund vor der Jagd, klangen seine
Worte nachgeahmt. Er stammte eben aus Devonport. Bei Simmonds war das anders.
Der fühlte wirklich etwas Großes, er meinte die Wahrheit zu spüren. »Jetzt will
ich es wissen!« sagte er. John glaubte ihm.
    James Cooke hielt eine letzte Rede. »Wir sind auf dem Weg
in die Unsterblichkeit!« lächelte er. »Gebt noch Besseres als sonst, nur wenig
noch, und ihr seid dreimal besser als die Franzosen.«
    Wie hatte er das gerechnet?
    In der Fähnrichsmesse wurde die Verbandsstation eingerichtet.
Simmonds konnte vor Eifer nicht mehr normal gehen, nur noch rennen, als gelte
es Tod oder Leben. Vielleicht schlug Leichtlebigkeit in Kraft und Mut um. Bei
der Mannschaft bemerkte John Ähnliches. Nur hie und da schien der Heroismus
etwas zu knirschen, als sei zu wenig Öl daran. Auf dem Vordeck hörte John den
Satz:
    Â»Die Toten sehen es anders.«
    Er lernte ihn, um ihn geschwind sprechen zu können, und schoß ihn
auf Walford ab. Noch immer vertraute John darauf, daß es zu keiner Schlacht
kommen würde.
    Aber da rief der Ausguck: »Fremde Schiffe!« Es dauerte nicht lange,
und das Meer war weiß von Segeln, so weit man sah. John blieb ganz ruhig, aber
es war ihm für einen Moment, als rieche er Schneeluft. Seine Nase wurde kalt.
Eine unregelmäßige Reihe schwimmender Festungen, nordwärts ziehend, bildete ein
Drittel des Horizonts gegen

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