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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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erinnern konnte. Jetzt war das Fremde eher hier. Ihm war sogar,
als habe die frühlingshafte Mauer in Whampoa vertrauter gerochen als hier die
Stufen, die zum Marktkreuz hinaufführten. Dennoch blieb eine Ahnung von Liebe.
    Â»Ja, das Nachhausekommen!« sagte die Stimme des alten Ayscough, der
ihm gefolgt war. »Da kann man sich immer nur hinsetzen.« Midshipman John
Franklin stand auf und klopfte sich den Staub von der Hose. Er überlegte, ob
die Liebe zum Vaterland mehr eine Pflicht oder mehr etwas Angeborenes sei. Einen
alten Soldaten konnte er so etwas natürlich nicht fragen.
    Das Haus in der schmalen Passage gehörte jetzt einem
fremden, dicken Mann, der immer nur »ha – hm« sagte, zur Begrüßung, zur
Erklärung, zum Abschied.
    Die Eltern wohnten in einem kleineren Haus. Die Mutter funkelte
fröhlich mit den Augen und nannte Johns Namen. Es war still, denn der Vater
sagte wenig. Traurig schien er, und John bekam Mitleid. War denn kein Geld mehr
da – Vater hatte doch ein Vermögen gehabt? John fragte lieber nicht. Er hörte ja,
daß die guten Zeiten vorbei waren. Über Thomas sagte der Vater knapp, er
befehlige jetzt ein Freiwilligenregiment. Es werde Napoleon bestrafen, wenn er
sich hier in der Gegend blicken lassen sollte.
    Der Großvater war inzwischen stocktaub. Er sah jeden, der redete,
lange an und sagte: »Zu schreien brauchst du nicht. Ich verstehe es sowieso
nicht. Alles Wichtige merke ich selber, das muß mir niemand sagen!«
    Während er zu Anns Haus ging, versuchte John, sich an Marys Gesicht
zu erinnern. Er bekam es aber nicht zusammen, und das wunderte ihn. Vergaß man
das Äußere eines Menschen, wenn man ihn liebte? Vielleicht gerade darum.
    Ann Flinders, geborene Chapell, war runder geworden. Sie freute
sich, John zu sehen. Von Matthews Unglück hatte sie längst gehört. »Erst die
Admirale, dann die Franzosen – und er hat doch niemandem etwas getan.« Sie war
traurig, aber sie weinte nicht. Über die Reise wollte sie alles hören. Zuletzt
sagte sie nur: »Das werden die Franzosen büßen!«
    Dann besuchte er die Eltern Lound.
    Seit Sherards Brief aus Sheerness hatten sie von ihm nichts mehr
gehört. Der, den Matthew mitgenommen hatte, war gewiß beschlagnahmt. Und aus
Port Jackson hatte er keine Zeile geschrieben. John dachte an das Gebiet, wohin
sein Freund sich hatte aufmachen wollen – hinter den blauen Bergen, wo alle
Flüsse nach Westen flossen und wohin auch die Sträflinge von Botany Bay sich
durchschlugen, wenn es ihnen überhaupt gelang auszubrechen.
    Â»Er ist in einem grünen Land mit viel schönem Wetter«, sagte John,
»aber die Post ist sehr schlecht dort.«
    In Ing Ming war es schlimmer geworden. Mehr Leute und weniger zu
essen. Ihre Kuh hatten die Lounds noch. Aber das Gemeindeland war viel zu klein
geworden für das Armenvieh: »Die Großen versetzen einfach die Zäune. Und die
Wiese wird abgefressen, daß sich kein Halm mehr heraustraut!« Vater Lound war
Drescher. Anderthalb Schillinge pro Tag während der Erntezeit. Seine Frau hätte
Flachs spinnen können, wäre nicht das Spinnrad längst zusammen mit dem Teekessel
zum Pfandleiher gewandert. Es war jener Mann, der zu allem nur »ha – hm« sagte.
    Â»Unsere Jüngeren sind alle noch im Haus«, sagte Vater Lound. »In den
Marschen ist der Lohn viel höher. Oder wir gehen in die Spinnerei, da können
die Kinder mitverdienen, auch im Winter. Vielleicht wird es besser, wenn wir
den Krieg gewinnen.«
    Sie zeigten John Sherards letzten Brief. Über sich selbst las er
dort: »Nachts träumt er von den Toten.«
    Das Dorf war wie verlassen. Tom Barker war bei einem Apotheker in
London zur Lehre, andere dienten in der Armee, viele waren ganz fortgegangen.
In der Kirche stand Peregrin Bertie, der Lord von Willoughby, und überblickte
eine Versammlung von leeren Stühlen.
    Den Schäfer gab es noch, den Langschläfer und Rebellen.
    Er stand im White Hart Inn an der Theke
und ließ nichts gelten. »In der Welt herumkommen? Dazu brauche ich kein
Schiff«, sagte er, »die Erde dreht sich doch von selber.«
    John nahm das geduldig hin. »Du drehst dich aber mit«, antwortete
er, »also bleibst du, wo du bist.«
    Der Schäfer kicherte: »Die Füße mußt du schon heben!«
    Dann sprachen sie über die Gemeindewiese. »Weißt du, was

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