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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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plötzlich kommt er zurecht. Er weiß, was er kann und was er
nicht kann. Darin liegt die halbe Arbeit.«
    Â»Glück hat er aber auch!« bemerkte Pasley. Dann unterließen sie
wieder für mehrere Wochen jeden Kommentar. Und suchten sich andere Opfer.
    Falls der Friede bevorstand, dann bedeutete er Armut. Für
arbeitslose Offiziere gab es nur den halben Sold, von den ausbleibenden
Prisengeldern gar nicht zu reden. Für Unteroffiziere und Mannschaften gab es keinen
Penny. Und in England herrschte Not.
    Â»Wir haben keine Chance!« schimpfte der Zahlmeister. Pause,
nachdenkliches Schweigen. »Dann sollten wir sie nutzen!« witzelte ein anderer.
    Â»Wir selbst sind die Chance.« Die Zuhörer wandten die Köpfe:
Franklin. Nicht, daß sie ihn verstanden hätten. Aber wenn einer überlegte, was
er sagte, dann Franklin. So dachten sie immerhin noch ein Weilchen nach. Er
hatte den Mut, immer so lange dumm auszusehen, bis er klug war, das konnte man
ihm ruhig nachmachen. Der hatte auch sonst einen harten Schädel! Keine Kugel
konnte ihn durchdringen. Gott hatte mit Franklin bestimmt noch etwas vor. Sie
halfen ihm, wo sie konnten.
    John fühlte, daß er nach dem Gespräch mit einem Blinden, der
vielleicht nicht einmal wirklich existiert hatte, mehr Kraft besaß als je
zuvor. Überdies trug ihm seine Stirnnarbe einen neuen, unerklärlichen Respekt
ein, und der machte ihn noch stärker, als er schon war.
    Die Letzten werden die Ersten sein, sagte er zu sich, und ein
bißchen dachte er dabei auch an Walker und Pasley – er war ja kein Heiliger.
    Es wurde wirklich Zeit für ein eigenes Kommando.
    Friede! Und sogar schon der zweite! Nach dem ersten war
Napoleon auf Elba gefangengesetzt worden, von dort aber wieder ausgebrochen und
erneut Frankreichs Herr geworden. Noch einmal Krieg, dann die große Niederlage.
Dieser Friede jetzt schien endgültig zu sein – ganz London flimmerte von
Fahnen.
    Für die Offiziere wurden Bälle und Diners gegeben. Ehrende Ansprachen,
Hochrufe, Champagner und Bier.
    John stand etwas unbeteiligt am Rande. Dabei hatte er doch nichts
gegen Friedensjubel. Aber es schien ihm, daß er sich für allgemeine
Begeisterungen ohnehin nicht recht eignete, und jetzt weniger denn je.
Glücklich war er darüber nicht. Ich muß es mit etwas Pflichtgefühl erreichen,
dachte er, daß ich mich nicht ganz von der Nation entferne.
    Mit einem anderen Offizier sprach John über die Investigator und über Sherard. »Wie?« fragte der andere, »Sherard Lound? Sind Sie sicher,
daß er nicht Gérard hieß? Von einem Gérard Lound habe ich gehört.« John bat um
Einzelheiten.
    Dieser Gérard sollte zweiter Leutnant auf der Lydia während ihrer Reise zur mittelamerikanischen Küste gewesen sein. Er habe einen
etwas zweifelhaften Ruf gehabt. Auch sei zwischen ihm und Lady Barbara Wellesley
auf der Reise ums Kap Horn etwas gewesen. Doch, doch! Der Kapitän selbst sei
eingeschritten, übrigens – der Erzähler blickte sich um – durchaus zum
Mißvergnügen der Lady. Lound sei dann nach einem Gefecht im Jahre 1812 plötzlich
spurlos verschwunden gewesen, und es halte sich das Gerücht, der Kapitän selbst
habe …
    John interessierte sich nicht für Eifersuchtsgeschichten, und er
glaubte fest, daß der andere den Namen verwechselte.
    Sherard Philip Lound bebaute australisches Land und lebte in
Reichtum und Freuden; daran wollte John nicht zweifeln.
    Hugh Willoughby, ein Verwandter des steinernen Lord
Peregrin Bertie, hatte vor Hunderten von Jahren die Inseln gefunden, auf denen
die Sonne keine Tage und Stunden machte. Das hatte John nie vergessen. Jetzt
bekam es eine neue Bedeutung für ihn. John Franklin, Leutnant der königlichen
Marine, zur Zeit beschäftigungslos und im Halbsold wie Tausende von Leutnants,
wußte als einziger ganz genau, wo er hinwollte. In Gesellschaft behielt er
seinen Wunschtraum eher für sich. Aber zu sich selbst sagte er hin und wieder:
»Am Nordpol war noch keiner!«
    Er war sicher, daß es dort, weil im Sommer die Sonne nicht
unterging, zweierlei gab: offenes Wasser, und eine Zeit ohne Stunden und Tage.
    In London wohnte John im Norfolk Hotel, in dem er Matthew
Flinders zum letzten Mal wiedergesehen hatte. Es gelang ihm sogar, dasselbe
Zimmer zu mieten, das war ihm wichtig.
    Dort drüben auf dem Bett hatte vor fünf Jahren der Kapitän

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