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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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Tagelang hatte John sich abgemüht. Jetzt wollte er etwas von London
sehen. Er suchte Eleanor Porden auf, die Dame mit dem Pudding, und bat sie, ihn
mit der Kutsche ein wenig herumzufahren. Sie lachte und sagte sofort zu.
    Ihr Vater war ein großer Architekt und reich. Er hatte für den König
Schlösser und Rotunden gebaut. Sie war seine einzige Tochter.
    Â»Gehen wir ins Waterloo-Panorama«, schlug sie vor, »es soll sehr
naturgetreu sein.« John fiel ein, daß sie angedeutet hatte, sie schreibe
Gedichte. Lieber nicht die Rede darauf bringen, dachte er. Aber schon in der Kutsche
waren sie soweit: »Warten Sie mal, ich lese Ihnen ein Gedicht vor!« John
brauchte kaum zu warten, und sie las gleich drei. Die Reime schienen ordentlich
gemacht. Allerdings kamen etwas zu oft die Wörter »Wohlan« und »Wehe« vor.
    Â»Ich habe es mit Liebesgedichten schwer«, sagte John förmlich.
»Vielleicht bin ich nach so vielen Kriegsjahren nicht mehr aufmerksam für
Liebe.« Die Dichterin schwieg verdutzt und sagte nach einigen Sekunden: »Wohlan …« Da sie jetzt still war, beschloß John, das einzige Gedicht herzusagen, das
ihm geläufig war:
    Â»Keiner ahnt voraus den Preis,
    den er zahlt, bis er was weiß.«
    Es sei aus dem »Johnny Newcome«, aber für ihn sei es ein
Gedicht über Entdeckungsreisen.
    Sie war immer noch still.
    Er liebe eben kurze Gedichte, sagte er kleinlaut.
    Eleanor faßte sich. Sie waren jetzt schon ganz in der Nähe des
Panoramas.
    Im Kuppelzelt schaute John geistesabwesend auf die vielen
Zinnkrieger und ihre Pferdchen. Die gefallenen Soldaten, insbesondere der
niederen Dienstgrade, waren stets etwas kleiner als die noch lebenden. Auch in
der Farbe waren sie fahler, sie schienen sich schon dem Erdboden anzupassen.
John erläuterte Eleanor die Vor- und Nachteile des starren Blicks anhand der
Panorama-Landschaft. Dann spazierten sie ein wenig durch die Stadt.
    Â»Eigentümlich!« meinte Eleanor. »Wenn Sie durchs Gedränge gehen,
weichen Sie niemandem aus. Sie entschuldigen sich nur, das ist das einzige, was
Sie von einem Bären unterscheidet!« Ihre Stimme schwirrte. John überlegte. Sie
beobachtet mich, dachte er. Womöglich schätzt sie mich persönlich. Er begann
sich Sätze zurechtzulegen, mit denen er ihr antworten konnte.
    Die Stadt empfand John als ziemlich befremdend. Wenn alle Menschen
nur ruhig und übersichtlich ihre Wege zurückgelegt und die Richtung beibehalten
hätten! Aber es gab ständig unverhoffte Wendungen und willkürliches Gerempel.
Jeder, der unter zwanzig und männlich war, boxte sich mit irgendeinem anderen
der gleichen Sorte herum. Entweder der Angreifer oder der Getroffene gerieten
stets zuverlässig vor Johns Füße. Und dann die Kutscher! Besorgt starrte John
auf diese bedenkenlosen Existenzen mit rundem Hut, wie sie einander an den
unübersichtlichsten Stellen Nabe an Nabe überholten und dahinrasten, was sie
konnten. Ganz London schien in die Geschwindigkeit verliebt. Gut, daß es jetzt
Trottoirs gab – das waren erhöhte Steinbänder längs der Fahrbahnen. Aber wenn
einem dort vier betrunkene Soldaten begegneten, geriet man über die Kante und
war doppelt gefährdet. Blieb man stehen, um Überblick zu gewinnen, wurde man
augenblicks von hinten geknufft und gegen die Hacken getreten. Während all
dieser Mißhelligkeiten setzte Eleanor unbekümmert das Gespräch fort:
    Â»Wollen Sie nicht meinen Vater kennenlernen, Mr. Franklin?«
    Â»Ich kann keine Frau ernähren«, antwortete John. Er war gegen ein
Gitter gestolpert und mußte seinen Ärmel von einer schmiedeeisernen Spitze
pflücken. »Ich bin im Halbsold, und fremdes Geld will ich nicht, es sei denn
für eine Expedition. Wir sollten uns aber schreiben. Ich schätze Sie auch.«
    Miss Porden konnte so schräg aus den Augenwinkeln blicken, man mußte
auf alles gefaßt sein.
    Â»Mr. Franklin«, sagte sie, »das war mir zu schnell!«
    Nach Arbeit suchte John vergeblich. In den Hafenstädten
saßen überall hungernde Seeleute und trübsinnige Offiziere herum. Die meisten
Schiffe wurden abgewrackt oder lagen noch für einige Jahre als Gefangenenhulken
fest vertäut, so auch die alte Bellerophon.
    Der Beamte in der Seebehörde bekam einen leidenden Gesichtsausdruck,
als John sagte, er wolle auf Entdeckungsreisen oder überhaupt nicht

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