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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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sah über den Kopf des Blinden in die wackelnde und
hüpfende Landschaft und fing an, über sich selbst zu sprechen. »Neunundzwanzig
Jahre bin ich jetzt alt. Zehn davon Kriegsdienst. Niederlande, Brasilien,
Westindien. Ich habe alles falsch gemacht. Dabei wußte ich es besser. Aber das
wird anders. Ich habe noch Zeit.«
    Sie waren auf einem brauchbaren Weg. Der Blinde schritt aus und
sagte nichts, er nannte nicht einmal seinen Namen. Er schien aber zuhören zu
wollen.
    Â»Bei Trafalgar habe ich mich schon aus den Augen verloren, und danach
noch mehr. Dabei wollte ich nur das Zittern loswerden. Ich wollte nicht mehr
feige oder dumm aussehen, nie wieder. Das war verkehrt.«
    Keine Antwort.
    Â»Der Kopf kann den dazugehörigen Menschen falsch führen. Er kann ein
Verräterkopf sein und damit alles auf lange Zeit verderben. Aber ich glaube,
man kann auch lang dauernde Fehler überleben. – Mehr nach Steuerbord! Immer
gegenhalten, sonst gehst du im Kreis!«
    Der Blinde schwieg, korrigierte die Richtung und schritt aus.
    Â»Ich spreche jetzt über das Sehen, verzeih mir. Damit hängt alles
zusammen. Es gibt zweierlei Arten: einen Blick für die Einzelheiten, der das
Neue entdeckt, und einen starren Blick, der nur dem gefaßten Plan folgt und beschleunigt
für den Moment. Wenn du mich nicht verstehst, anders kann ich es nicht sagen.
Ich hatte schon mit diesen Sätzen viel Mühe.«
    Der Blinde sagte kein Wort, aber er schien nachzudenken.
    Â»Im Gefecht gibt es nur den starren Blick, nichts anderes. Er greift
an und ist wie eine Falle aufgestellt für drei oder vier Möglichkeiten. Er ist
nur gut, wenn man anderen schaden muß, um sich selbst zu retten. Wenn er zur Gewohnheit
wird, verliert man die Gangart, das eigene Gehen ist dahin.«
    Der Lahme lehnte schon geraume Zeit an einer Baumwurzel, und der
Blinde ruhte aus.
    Â»Süchtig bin ich geworden, kriegssüchtig! – Hast du etwas gesagt,
Blinder? Sagtest du ›Sklave‹?«
    Der Blinde kauerte und schwieg. Der Lahme fuhr fort:
    Â»Es geht mir durcheinander. Ich sehe eine Säule, die aus dem Meer
aufsteigt, einen Turm aus Wasser. Mir ist schwarz vor den Augen. Nelson haben
wir geliebt. Er nahm uns die eigene Gangart und erhöhte die Feuergeschwindigkeit.
Wir hätten nicht gewonnen –«
    Â»Wo sind wir?« hörte er den Blinden fragen.
    Â»Zu Hause an der Küste«, hörte er sich antworten, »hinter Skegness
an der deutschen See, Gibraltar Point.«
    Er schloß die Augen und rutschte zur Erde.
    Er hörte den Blinden noch etwas sagen, aber er verstand es nicht
mehr.
    Â»Jetzt geht es schon besser«, sprach der Wundarzt der Bedford zufrieden. »Etwas Verrückteres habe ich noch nicht
gesehen! Vorn ein Loch und hinten ein Loch, und die Kugel ging nicht durch den
Kopf, sondern unter der Haut am Schädel entlang, glatt herum! Es ist was für
die Wissenschaft. Man hielt Sie für tot, Mr. Franklin!«
    Der Verwundete öffnete den Mund. Ob er verstanden hatte, war schwer
zu beurteilen. Es war dem Arzt auch nicht wichtig.
    Â»Man wollte Sie schon begraben. Da gab es nur das Rätsel, wie Sie
überhaupt bis an die Küste gekommen sind, noch dazu so weit entfernt von der
Landestelle …«
    John Franklin flüsterte etwas: »Einen Blinden …«
    Â»Wie bitte?«
    Â»Einen Blinden haben Sie nicht gefunden?«
    Â»Ich verstehe Sie nicht, Sir?«
    Â»Einen weißgekleideten Menschen, der blind war?«
    Der Wundarzt stutzte und sah besorgt aus.
    Â»In Ihrer Nähe war niemand, auch kein Toter. Es ist ja einige Tage
her – vielleicht haben Sie sich das auch nur –«
    Â»Dann bin ich auch nicht gelähmt?«
    Â»Gelähmt? Im Fieber haben Sie die Beine bewegt, als wollten Sie
einen ganzen Kontinent durchqueren. Wir mußten Sie festbinden.«
    Â»Was für ein Schiff ist das hier?«
    Â»Ihr eigenes!«
    Franklin schwieg.
    Â»Die Bedford, Mr. Franklin! Sie sind
zweiter Leutnant hier! Sie sind Mr. Franklin!«
    Der Kranke sah ihn groß an.
    Â»Ich weiß, wer ich bin. Nur der Name war mir etwas fremd.«
    Dann schlief er wieder ein. Der Arzt ging nach oben, um dem Kapitän
zu berichten.
    Friede. Nur die Tapferkeitsmedaille erinnerte noch an den
gescheiterten Angriff auf New Orleans. Und die tägliche Arbeit, denn die war
jetzt mühsamer. Es fehlten so viele.
    Die Schlacht, sagte man, sei

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