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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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starrte auf seine Stiefel, er sah ihnen zu,
wie sie da so unbegreiflich still lagen. Dann zog er sich an den Trümmern des
Kanonengestells noch etwas höher und versuchte sich umzusehen.
    In geringer Entfernung lag im zertrampelten Sumpf ein toter
Engländer, zwei Schritte weiter ein Amerikaner, dann wieder ein Engländer, alle
mit vor Anstrengung oder Wut verzerrten Gesichtern, der Amerikaner mit dem Säbel
noch in der Faust, den er hoch über seinen Kopf gereckt hielt.
    Der Lahme wollte jetzt versuchen, auf die kleine Anhöhe zu kommen,
damit ihn jemand sehen konnte. Aber die dünnen Grasgewächse rissen zu leicht
aus, sie gaben keinen Halt. Er schöpfte Atem und blickte in den Himmel. Über
den runden Wölkchen, die aus Pulverdampf entstanden sein mochten, zeigten sich
scharfgeschliffene graue Schwaden. Die Sonne blieb verborgen.
    Ringsum hörte er das Stöhnen einiger, die noch lebten. Auf seinen
Ruf antwortete niemand. Die Kuppe trug lockeres Erdreich, losgetrampelt von den
Stiefeln der angreifenden Engländer, die jetzt hier lagen, und der Amerikaner
beim Gegenangriff.
    Einige Meilen weiter war noch immer Kampfeslärm zu hören. Der Lahme
begann mit den Händen Löcher zu graben, um sich so auf die Höhe hinaufzuziehen.
Daß es keinen Zweck hatte, sich an Leichen festzuhalten, merkte er bald. Sie
gaben nur nach und fielen vollends, und der Kletternde mit ihnen. Kalt war es,
und es schien noch kälter zu werden. Mitte Januar, dazu der Blutverlust. In der
Nähe brannte etwas, ab und zu wurde der Atem von einer fetten, rußigen Wolke
gewürgt.
    In der Ferne ging ein Mann, groß und etwas gebückt. Einen Augenblick
lang schien es, als sei er weiß gekleidet. Seine Bewegungen waren ungeschickt
und tastend, er stolperte immer wieder über Trümmer und Körper, trat sogar
einem Verletzten schlimm auf die Brust.
    Jetzt war auch seine Stimme zu hören: »Blind!« rief er. »Ich bin
blind. Hört mich einer?«
    Â»Hierher!« rief der Lahme.
    Es dauerte lang, bis der andere heran war. Er hatte einen lächelnden
Mund, aber darüber eine Gesichtshälfte, die rot aussah, wie angemalt. Er sagte:
»Kannst du mich hier herausführen?«
    Â»Ich kann mich schlecht bewegen. Die Beine. Aber ich sehe immerhin.«
    Â»Dann trage ich dich. Sag du nur die Richtung an!«
    Â»Zuviel der Ehre«, sagte der Lahme. Der Blinde huckte ihn auf.
    Â»Zwei Strich backbord! Mehr! Jetzt komm auf! Stütz! Recht so.«
    Die neue Art der Fortbewegung wollte geübt sein. Zunächst fielen sie
die Böschung, für die der Lahme eine Stunde gebraucht hatte, gemeinsam wieder
hinab. Da lagen sie also.
    Â»Den Pflock habe ich nicht gesehen.«
    Der Mund des Blinden lächelte, wenn auch in die falsche Richtung.
»Der Blinde trägt den Lahmen, was soll man erwarten!«
    Das machte den Krieg zu Lande aus: beschwerliches Liegen
und Kriechen im Feuchten, fortwährendes Hinlegen und Wiederaufstehen in
vielerlei Stellungen, aber keine davon gab Überblick. Es war eine Sache ohne
jede Freiheit. Seeleute im Landkrieg – was für ein Elend! Darüber waren sich
der Lahme und der Blinde einig. Sie hatten genug. Da war die Explosion im
Munitionswagen. Oder wie sich der amerikanische Schoner auf dem Mississippi ans
englische Lager geschlichen und es zusammengeschossen hatte. Oder wie die
Carolina dann selbst in die Luft geflogen war: »Ich habe einen brennenden
Handschuh fliegen sehen. Ich fürchte, es war die Hand selbst.« Man hatte am
Kanal zwischen Bayou Calatan und dem Mississippi mitgegraben, man hatte die
offenen Boote befehligt, mit denen der Angriff auf die Kanonenschiffe der
Amerikaner versucht worden war. In der Nacht waren sie sechsunddreißig Meilen
weit gegen die Strömung angerudert, aber erst bei Tageslicht eingetroffen – ein
gutes Ziel für die Schützen der anderen Seite. Warum hatte man das noch unverletzt
überstanden, und wofür? Heute war es gegen New Orleans selbst gegangen. Die
Schlacht war verloren. Wer jetzt noch lebte, der tat es kaum mehr lange.
    Unwichtig, wer von den beiden die schlimmeren Einzelheiten erlebt
hatte. Jetzt hieß es den Weg ins offene Land finden, und wenn das die Wüste
selbst war. Da war immer noch mehr Leben als hier. Ruhe finden hieß es,
irgendwo, und keinesfalls zurückkommen. Weder helfen noch sich helfen lassen –
weg nur von hier, so gut es ging.
    Der Lahme

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