Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
Vom Netzwerk:
fahren.
    Â»Entdeckt ist doch schon alles«, sagte der Mann, »wir müssen es nur
noch bewachen.«
    Â»Ich kann warten«, sagte John heiter.
    Er hatte Vertrauen in die Zukunft. War er nicht vor einem Jahr noch
auf dem Schlachtfeld gelegen mit lahmen Beinen? Dann war er davongekommen –
wie, konnte keiner sagen – und war nicht tot, nicht verrückt, nicht einmal
lahm. Er wußte nicht, wie das zugegangen war, aber eben das gab Mut. Auch jetzt
waren seine Chancen gering – konnte nicht wiederum etwas Unerklärliches
geschehen?
    Er lieferte die Abhandlung über Matthews Kompaßkorrektur ab und beschloß,
nach Lincolnshire zu fahren. Er sagte Dr. Brown und einigen anderen, wie sie
ihn dort erreichen konnten. Dann verabschiedete er sich.
    Vor dem Saracen Head in Snowhill stand die
Postkutsche bereit. Es war fünf Uhr nachmittags.
    Â»Spilsby?« fragte der Kutscher. »Das muß ein langsamer Ort sein!«
    John fand sein Urteil über die Dreistheit der Kutscher bestätigt.
Aber dann erfuhr er, daß er nicht gemeint war. Jeder Ort hieß langsam, wenn er
nur selten von der Postkutsche angelaufen wurde.
    John fuhr »außen«, um Geld zu sparen. Er stellte vergnügt fest, daß
er keine Angst mehr vor dem Herunterfallen hatte. So waren fünfzehn Jahre
Seefahrt doch nicht umsonst gewesen.
    Vom Kutschendach aus sah John in die mondhelle Nacht. Er
sah die vielen stämmigen Kirchtürme mit den Zackenkronen, wie sie in der Ferne
kleiner wurden von Hügel zu Hügel, und die Bauernhöfe, die sich furchtsam
aneinander drängten.
    Die Not der Dörfer war aus zwei Meilen Entfernung schon zu sehen,
zuerst an den schlecht geflickten Dächern, dann an den geborstenen Fenstern.
Die Mißernten in diesem und im letzten Jahr – es fehlte das Geld.
    Mit einem Male sah er, warum die Nacht so unnatürlich hell war: es
brannte! Irgendwo gegen Osten, in Richtung Ely, brannte es an wenigstens drei
Stellen. Was geschah in diesem Land? John war Seemann, er rechnete nicht damit,
alles sofort zu begreifen. Aber auf dem Land konnte einem unbehaglich werden
nach so vielen Jahren.
    Was ihn zu Hause erwartete, wußte er immerhin aus Briefen: neue
Gesichter, Geldmangel und kummervolle Berichte. 1807 hatte Thomas, der Älteste,
sich das Leben genommen, weil ihm das Vermögen der Familie bei Spekulationen
durch die Finger geronnen war. Vor sechs Jahren war Großvater gestorben, ein
Jahr darauf die Mutter. Der Vater lebte jetzt weit außerhalb des Ortes in einem
Bauernhaus. Eine der Töchter versorgte ihn.
    Der Horizont war wieder dunkel. John gestand sich ein, daß er fror.
    Boston erreichten sie am frühen Vormittag. John hörte
Neuigkeiten. Hier gab es jetzt »Ludditen«. Das waren Arbeitslose, die sich
nachts die Gesichter schwarz malten und die mechanischen Webstühle kurz und
klein schlugen. Und in Horncastle sollte es neuerdings einen schiffbaren Kanal
nach Sleaford und sogar eine Bibliothek geben.
    Ab Stickford wurde die Straße schlechter. Das letzte Stück fuhr John
»innen«. Sein Herz klopfte.
    In Keal stieg er aus und ging mit seinem Gepäck auf Old Bolingbroke
zu, wo der Vater wohnte. Wenn er noch lebte.
    In einiger Entfernung sah er am Wegrand eine Gestalt stehen,
schwankend auf einen Stock gestützt. Der Mann schien jede Bewegung noch einmal
nachzubessern. Er war damit mehr beschäftigt als mit allem, was rundum vorging.
So sah Vater jetzt also aus.
    Er erkannte John nur an der Stimme, denn er sah fast nichts mehr.
»Ich bin müde«, klagte er. Die Zeit, die Kraft, alles zerfließe von selbst, vom
Geld ganz zu schweigen. John fragte, ob er ihn stützen oder führen sollte. Er
reichte ihm den Arm hinüber wie einer Dame. Umständlich entschuldigte sich der
Vater für seine Langsamkeit. John studierte seine Hand, die jetzt so viele
Buckel, Flecken und Adern hatte: er strich mit dem Finger darüber hin. Der Alte
staunte etwas.
    John sprach vom kühlen Wetter und erzählte von der Reise. Er nannte
Huntingdon, nannte Peterborough. Vater freute sich über geläufige Namen und war
dankbar, wenn die Worte deutlich nacheinander kamen. Kurz vor dem Eingang blieb
er stehen, drehte sich zu John hin und spähte nach seinem Gesicht:
    Â»Jetzt bist du zu Hause«, sprach er. »Wie geht es denn nun weiter?«

Dritter Teil
    Franklins Gebiet

Elftes Kapitel
    Der eigene Kopf und die
fremden Ideen
    Vor

Weitere Kostenlose Bücher