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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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von dem vorigen jeweils nur durch geringfügige Veränderungen
unterschied. So entstand, wenn innerhalb weniger Sekunden sämtliche Buchseiten
zu sehen waren, die Illusion eines einzigen, und zwar bewegten Bildes. Dr. Orme
behauptete, die Sinnestäuschung trete nicht nur bei langsamen, sondern bei
allen Menschen ein. Er mußte es wissen, er hatte es zweifellos an der schnellen
Haushälterin ausprobiert. John nahm sich vor, mit ihr darüber zu sprechen. Wo
waren überhaupt die Geräte? Verkauft, zerlegt oder in einer Dachkammer am
Gebrochenen Genick? John fühlte, wie ihn die neue Idee gefangennahm. Morgen
wollte er gleich wieder nach Louth fahren. Dr. Orme schrieb auch, wie er seine
Erfindung nutzbar machen wollte. Mit einer Laterna magica wollte er das vom Wälzer
hergestellte Bild optisch übertragen und auf die Wandfläche eines dunklen
Raumes weiterleiten. So konnte eine Anzahl von Menschen in bequemer Haltung
eine ganze Geschichte in bewegten Bildern erleben. Auch ohne Worte würden sie
begreifen, wie ein Vorgang aus dem anderen folgte. Sie hatten am Ereignis teil,
ohne in Gefahr geraten oder Fehler machen zu können.
    Johns Kopf war ganz von Dr. Ormes Erfindungsgeist angesteckt, zumal
einige Probleme noch nicht gelöst waren.
    So war für längere Geschichten eine schier riesenhafte Seitenzahl
nötig. Es mußten ohnehin mehrere Künstler viele Monate lang an einem solchen
Wälzbuch malen. Ferner lag in dem großen Seitenumfang auch eine technische
Schwierigkeit. Man mußte es bewerkstelligen, mehrere Wälzer so einzuspannen,
daß ohne Verzögerung immer der nächste einsetzte, wenn der vorige zu Ende ging.
Ein drittes Hindernis war die optische Übertragung. Dr. Orme zweifelte, ob es
Lichtquellen gäbe, die stark genug leuchteten.
    Hierin sah John kein Problem. Die neuen Leuchttürme konnten mit
ihren silbernen Hohlspiegeln meilenweit strahlen – so etwas mußte sich auch im
Saal verwenden lassen. Das wirkliche Hindernis schienen ihm die Künstler zu
sein. Er konnte sich nicht vorstellen, daß ein William Westall es fertigbringen
würde, tausendmal die gleiche Landschaft zu zeichnen, immer um ein geringes
verschoben. Er würde jedes Bild mit anderen Ahnungen und Stimmungen malen. Die
Künstler waren ganz deutlich der schwächste Punkt!
    Dr. Orme schlug vor, erhabene Augenblicke der englischen Geschichte
darzustellen, aber möglichst nichts Kriegerisches, sondern vor allem Bilder vom
friedlichen und geordneten Staatsleben »wie in einem bewegten Panorama«. Er
dachte an Bilder von Versöhnung und gemeinsamem Gebet, von der glücklichen
Heimkehr eines Schiffes, an Beispiele von Edelmut und zärtlichem Betragen, die
zur Nachahmung reizten. Göttliche Wunder hingegen schloß er gleich aus. Die
Speisung der Fünftausend oder die Heilung der Aussätzigen seien kein Thema,
denn das hieße Gott nachäffen.
    Es war dunkel geworden. John dachte über die Speisung der Fünftausend
nach, packte die Hefte ein und wanderte zurück. Er verirrte sich beinahe, so
tief grübelte er über das Gelesene nach. Jetzt hätte er gern mit Sherard Lound
darüber gesprochen.
    Kurz nach dem Einschlafen schreckte er noch einmal hoch.
    Â»Druckmaschinen!« murmelte er, »besondere Druckmaschinen, die
tausendmal das gleiche drucken und doch für die Veränderungen sorgen!« Aber
woher das Geld nehmen?
    Damit schlief er ein.
    In Louth wußten weder die Haushälterin noch der
Schulmeister über Dr. Ormes Experimente Bescheid. Es gab auch keine Geräte
mehr. Was sich an Metall- und Holzteilen, Kurbeln und Schrauben angefunden
hatte, war an mehrere Handwerker verkauft worden. Und in den nachgelassenen
Schriften war nichts weiter aufgetaucht, was auf den Bilderwälzer hinwies.
Nachdenklich fuhr John wieder zurück. Eine Idee, die er aus Geldmangel nicht
verwirklichen konnte, war ein schlechter Zeitvertreib. Außerdem konnte ihn so
etwas unter Umständen vom Nordpol abhalten, und das kam nicht in Frage.
    Aber er wollte in der Wartezeit nicht tatenlos sein. Irgend etwas
Ehrenhaftes mußte sich finden lassen, möglichst etwas, das auch Geld
einbrachte.
    Die Dorfbewohner und die Gutsbesitzer behandelten ihn jetzt
aufmerksamer – das machten seine Statur und die Narbe auf der Stirn. Wenn er
jemanden bat, das Gesagte zu wiederholen, dann wurde er nicht mehr verspottet
und

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