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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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dem White Hart Inn zu
Spilsby kam die Kutsche an, und John fragte nach Post.
    Kein Brief von Dr. Brown, keine Arbeit! Nur Eleanor Porden hatte
geschrieben, einen langen Brief, denn sie schrieb gern. John verschob das Lesen
auf einen besseren Tag.
    In Spilsby hatte sich viel verändert. Und der alte Ayscough wartete
nicht mehr auf Kutschen und Reisende. John fand seinen Grabstein neben dem Turm
von St. James.
    Den Schäfer hatten sie vor wenigen Monaten als Brandstifter
verurteilt und nach Botany Bay deportiert. Er hatte die drei großen
Gutsscheunen angezündet. Warum tat er das aber? Schade um ihn.
    Und Tom Barker war, als er zu Fuß durch die Wälder ging, von
Wegelagerern beraubt und erschlagen worden. Er hatte sich wohl verteidigt. Wer
erschlug schon gerne einen Apotheker?
    Die Familie Lound wohnte nicht mehr in Ing Ming. Bei Nacht, so hieß
es, seien sie über die Gemeindegrenze fortgegangen. Ihr Ziel sei Sheffield
gewesen, die Kohlenstadt, wo die Dampfpumpen nickten. Da gebe es jetzt Arbeit.
    Von Sherard hatte keiner etwas gehört.
    John ging wieder nach Bolingbroke und dachte grimmig: Ich kann
warten!
    Gegen den Betrag von einem Pfund, zehn Schillingen und Sixpence trat
er der Ersten Lesegesellschaft von Horncastle bei. Es war eine Menge Geld, aber
dort waren fast achthundert Bücher auszuleihen, und John wollte seine Wartezeit
nutzen. Mit Cooks Reisebeschreibungen bestieg er die Kutsche nach Louth. Er
wollte mit Dr. Orme ausführlich über den Nordpol sprechen.
    Aber Dr. Orme war tot. Im vorigen Jahr war er aus guter
Gesundheit heraus plötzlich umgefallen. In der Kirche fand John eine Tafel, die
alle seine akademischen und kirchlichen Titel aufzählte. Es waren viele, man
hatte immer nur die Anfangsbuchstaben einmeißeln können.
    Am Gebrochenen Genick wohnte längst der Nachfolger. Dieser übergab
John ein in dünnes Leder eingeschlagenes, vielfach verschnürtes und
versiegeltes Paket mit der Aufschrift: »John Franklin, Leutnant der Royal Navy,
zu eigenen Händen«. Der Schulmeister vermutete: »Es wird eine Bibel sein.« Er
bot John an, sich zu setzen und nachzusehen, aber der lehnte ab. Er ging lieber
wieder auf den Friedhof, denn er wollte für sich sein, wenn er Dr. Ormes Zeilen
las.
    In dem Paket lagen zwei Handschriften. Die eine hieß:
    Â»Die Entstehung des Individuums
    durch Geschwindigkeit
    oder:
    Beobachtungen zu dem aparten Zeitmaß, welches GOTT
    jedem einzelnen Menschen eingepflanzt,
    dargestellt an einem hervorragenden Exemplar.«
    Die andere Schrift trug den Titel:
    Â»Abhandlung über nützliche Vorkehrungen,
    welche geeignet sind, dem trägen Auge
    Bewegungen vorzuspiegeln,
    anwendbar zur Erbauung und Belehrung und
    zur Verkündigung der Botschaft des HERRN .«
    Im Begleitbrief stand nur: »Lieber John, bitte lies die beiden
Hefte durch und schicke sie mir dann zurück. Ich möchte gern Deine Meinung
hören.« Gruß, Unterschrift – das war alles.
    Zum Weinen war da nichts. Es klang so munter und kurz – dieser
Briefschreiber hatte nicht mit dem Tod gerechnet. John sah gleich in die
Schriften hinein, so als warte Dr. Orme wirklich auf eine rasche Antwort.
    Das erste Manuskript beschrieb ihn, John, ohne seinen Namen zu
nennen. Er hieß da »der Schüler F.«. Ihm wurde etwas beklommen zumute, und er
wußte nicht, warum. Er wandte sich sofort der zweiten Schrift zu, zumal sie
farbige Skizzen enthielt. Auch schienen ihm bei den »Nützlichen Vorkehrungen«
die Sätze viel kürzer zu sein als bei der »Entstehung des Individuums«.
    John verbarg die Schriften vor seiner Schwester und den
anderen, die im Haus wohnten. Er wollte nicht, daß jemand Dr. Ormes Gedanken
studierte, bevor er selbst sie kannte.
    Zum Lesen ging er hinaus an den Fluß. In Bolingbroke stand die Ruine
eines Schlosses, in dem früher einmal ein König geboren worden war. Auf der
Sockelmauer des zusammengestürzten Torhauses saß John den ganzen Tag. Am Fluß
weideten Kühe und eine Ziege. Ab und zu kamen Stechfliegen. John ließ sie
stechen und las weiter.
    Die wichtigste der nützlichen Vorkehrungen, von denen bei
Dr. Orme die Rede war, hieß Bilderwälzer. Das war ein Apparat, in den ein
großes Buch eingespannt war. Mit Hilfe eines starken Mechanismus wurden die
Seiten in blitzschneller Folge umgeblättert. Auf jeder Seite war ein Bild
aufgemalt, das sich

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