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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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erhoben, schuf keine
Gegenwart und keinen Gesichtspunkt. John setzte auf die Geistesabwesenheit und
war sich seiner Sache sicher. Er dachte daran, ein System zu entwerfen, nach
dem man leben und Schiffe führen konnte. Vielleicht fing mit ihm, John
Franklin, ein neues Zeitalter an? 74 Grad 25 Minuten. Sie waren schon auf der
Höhe der Bären-Insel.
    Jenseits von 75 Grad nördlicher Breite begann es zu
schneien. John schnupperte aus der Kajütentür und blickte auf das weiß
überpulverte Achterdeck. Genauso hatte es gerochen, als er zum ersten Mal in
seinem Leben Schnee gesehen hatte. Er sah sich flüchtig um, wagte sich dann
hinaus und begann einen schwerfälligen Bärentanz, um zu sehen, wie seine Füße
Spuren machten. Er fühlte sich so jung, daß er direkt darüber nachdenken mußte:
Vielleicht war er es wirklich! Woher weiß ich denn, dachte er, daß ich auf
dieselbe Weise über dreißig bin wie die anderen? Wenn ich nachgehe wie eine
Uhr, dann dauert es auch länger, bis ich abgelaufen bin. Also bin ich
vielleicht erst zwanzig. Jählings beendete er den Bärentanz, denn er bemerkte
Midshipman Back, der ihn von der Großrah her ernst, fast mahnend anstarrte. Er
wollte ihn ignorieren, konnte aber nicht umhin, seine Fußspuren noch einmal mit
Backs Augen zu betrachten und sich die eigenen Bewegungen vorzustellen. Er
mußte lachen und Back wieder ansehen. Der lachte zurück mit weißen Zähnen. Ein
hübscher Bursche.
    Â»Der Schnee ist wunderbar, Sir!«
    Nein, irgendeine Ironie war nicht herauszuhören. Trotzdem! Er legte
sein Gesicht in Kapitänsfalten, wandte sich brüsk ab und ging etwas irritiert
in die Kajüte.
    Der polare Magnetismus fiel ihm ein. Aber wie den messen?
    Jetzt wurde es ernstlich kalt. Die Takelage vereiste, das
laufende Gut fror so steif, daß es sich vom stehenden in nichts mehr
unterschied. Die Wache hatte nicht nur zu pumpen, sondern auch noch mit Stöcken
auf die Taue zu schlagen, um sie beweglich zu halten. Alle Segelmanöver wurden
zu Abenteuern, und die Kälte nahm immer noch zu. Jedermann hustete herzzerbrechend.
John hingegen wurde übermütig.
    Er untersuchte den Schnee und trug, da Ordnungswidrigkeiten
weiterhin ausblieben, die Formen der Schneeflocken ins Strafenbuch ein. »Schnee
ist im Prinzip sechswinkelig«, schrieb er. Schließlich war Forschung der Zweck
der Reise. Vergnügt dachte er an die Gesichter der Admirale, wenn ihnen nach
langem Umweg über das heilige Rußland endlich das Strafenbuch der Trent zugehen würde.
    Zum ersten Mal segelten die Schiffe durchs Treibeis. Die
Schollen klimperten und schurrten an der Bordwand entlang.
    Niemand wollte schlafen gehen. Keiner war daran gewöhnt, etwas für
Nacht zu halten, was so hell war. Die niedrige Sonne schien auf die weißen
Segel, das Eis glänzte wie von Diamantkuppen und Smaragdgrotten, eine gefrorene
Stadt wuchs herauf und entfaltete sich in verwegenen Figuren. Die nautische
Sprache wurde fast überflüssig: man segelte von der »Kirche« zur »Festung«,
peilte dann an der »Höhle« vorbei die »Brücke« an. Auch unter der Wasserfläche
lag Eis und warf Licht zurück. Die See war in cremiges Weiß gehüllt, die Robben
schwammen wie in leuchtender Milch.
    Die Mannschaft hing in den Wanten und starrte auf die funkelnden
Eismassen, die sich im Kielwasser hinter dem Schiff herschoben, als wollten sie
es einholen. Gegen Mitternacht sank die Sonne, rot und seltsam verformt, die
größte Banane der Welt. Sie sank nicht einmal wirklich – sie verbarg sich nur
für kurze Zeit, nahm ein Bad und tauchte zum Trocknen wieder auf.
    Beechey sagte: »Alles schön und gut, aber wie kriegen wir die
Freiwache zum Schlafen?«
    Das war ein ewiger Abendhimmel, die Schatten so riesenhaft
lang, und wenn die Nebelschwaden aufstiegen, wurden sie sogleich zu rötlichen
Wolken und änderten alle Farben bis an den nördlichen Horizont.
    John blickte ins Eis, studierte die Formen und versuchte zu
verstehen, was sie bedeuteten. Das Meer konnte eben doch aus eigener Kraft über
sich selbst hinauswachsen, hier war der Beweis. Hier fand er, was seine Träume
gemeint hatten.
    Stunde für Stunde zeichnete er die Formen der Eisberge ins
Strafenbuch. Er schrieb die Farben dazu: »Grün auf der Linken, rot auf der
Rechten, und nach zehn Minuten umgekehrt.« Er versuchte zu

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