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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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Schweineglück, Sir!« bemerkte Back erleichtert und
frech, aber von Geringschätzung war nichts zu spüren, im Gegenteil. Reid verzog
das Gesicht. Zu ihm sagte Back: »Wenn wir auf dich gehört hätten, wären wir
jetzt sonstwo, und zwar als Eiszapfen!« Reid schwieg. Er gab sich plötzlich
einen Ruck und trat heftig nach einer Schneeflocke. John wunderte sich. Wie
konnte man nach einer Schneeflocke treten? War da noch etwas anderes?
    Im hellen Licht und aus dem Großtopp ließ sich anderntags der ganze
Irrgarten gut überblicken. Von dort, wo sie gewesen waren, hätten sie auch in
der »richtigen« Richtung das Schiff bei weitem verfehlt. Sie wären auf der
entgegengesetzten Seite irgendwo hingekommen, wo keiner sie gesucht hätte. Es
war eine Todesfalle ersten Ranges gewesen, und John Franklin war nicht
hineingegangen.
    Ich habe es leichter jetzt, dachte er, und mit Back gibt es kein
Problem mehr. Die Könige des Schulhofs lernen es, auf mich zu hören. Kaum hatte
er das gedacht, wußte er: Back erinnerte ihn an Tom Barker, seinen Mitschüler
vor zwanzig Jahren.
    Nicht einmal den 82. Breitengrad hatten sie erreicht, und
doch wollte Buchan schon wieder umkehren. »Wir sollten einen geschützten Hafen
finden und alles reparieren.«
    Â»Wir sollten« – John registrierte den ungewohnten Wortlaut. Er
fühlte sich zum Widerspruch geradezu aufgefordert.
    Â»Der Polarsommer wird vorbei sein, bevor wir damit fertig sind. So
groß sind die Schäden ja nun doch nicht. Machen wir einen letzten Versuch.«
    Â»Wollen Sie den Draufgänger spielen?«
    Â»Sir, wir haben noch nichts entdeckt und noch nichts bewiesen.«
    Â»Ich will Ihnen mal etwas sagen!« entgegnete Buchan. »Ich glaube,
was Sie beweisen wollen, ist etwas Persönliches. Ich habe Sie beobachtet. Sie
wollen beweisen, daß Sie nicht feige sind. Vielleicht ist Feigheit Ihr
Problem.«
    John fand, daß er über solche Bemerkungen nicht nachdenken müsse.
»Ein einziger Versuch, Sir. Wir haben nicht mehr viel Zeit, aber die offene
Polarsee kann nicht sehr weit sein.«
    Â»Ach, hol Sie der Teufel! Und wenn ein Sturm kommt?«
    Â»Dann sind wir sicher schon in einer Fahrrinne und geschützt. Wir
müssen es weiter westlich versuchen.«
    Buchan schwankte. Der Sommer ging zu Ende, das war ein Faktum.
    Â»Ich werde das entscheiden.«
    Fünf Tage fuhren sie an der Packeismauer entlang nach
Nordwesten, voraus die Trent, eine Viertelmeile dahinter
die Dorothea. John blickte durchs Glas: »Die segeln
zu nah am Festeis. Wenn der Wind aufhört, treiben sie mit der Dünung auf
Legerwall.« Beechey nickte: »Langeweile haben sie! Den Robben wollen sie
zusehen. Dabei sieht es auf der Wetterseite gar nicht so gut aus.« John befahl,
die Segelfläche auf ein Minimum zu reduzieren. Nur zur Vorsicht.
    Â»Und wißt ihr, was das Beste ist?« rief Gilbert. »Auf den
Sandwich-Inseln sollen wir in sechs Wochen ankommen, die Berichterstatter
warten schon!«
    Â»Und die Mädchen«, fügte Kirby hinzu. Weiß Gott, er redete immer
über Mädchen, kein gnädiger Sturm riß ihm das Wort vom Munde.
    Der Sturm sprang so plötzlich heran, als habe er im Hinterhalt
gelegen. Über den daherjagenden Wetterwolken lächelte ein ruhiger, silbriger
Himmel weiter. Um so mehr erschien die Sturmbö als eine bösartige Attacke.
    Aufregung. Kursänderung auf: »Hart am Wind, weg vom Eis!« Kommen wir
davon? Schnelle Gebete. Da schrien gleich mehrere: »Mann über Bord!« Gilfillan,
der Arzt, mit einem Schlag ins Meer geweht. Was jetzt? Zwei Grundregeln setzten
einander matt: Niemals auf eine Küste zutreiben im Sturm, und: Mann im Auge
behalten bei Mann über Bord. John entschied, daß er hier nur blind entscheiden
konnte, er hatte sich auch solche Fälle überlegt. Er behielt den Mann im Auge.
Leeboot zu Wasser, beidrehen! Ein schrecklicher Verlust an Zeit und Höhe. Einer
wies zur Eisküste: die Dorothea lag bereits hilflos
an der Mauer, rollend und stoßend zwischen den Eisblöcken. Die kam nicht mehr
davon, sie wurde schon zermahlen. In wenigen Stunden nur noch zerfaserte
Holzteile, Amen. Gegen den Sturm kam sie nicht weg.
    Gilfillans Körper gerettet, aber lebte er noch? Spink hatte sich, am
Seil hängend, auf ihn geworfen und ihn hereingeholt, immerfort lachend. Jedem
gab etwas anderes Kraft. Spink mußte, wenn er

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