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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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seinem Ersten Offizier allein war, suchte Beechey mit
seinen grauen Augen den Horizont ab und meinte: »Die Mannschaft steht es durch.
Sie ist gut. Drei oder vier Gezwungene, die den Humor nicht haben, sind
schlimmer als gar nichts.«
    Â»Danke!« murmelte John verblüfft.
    Das Gute an Beechey war, daß er seine Meinung dann sagte, wenn sie
gebraucht wurde.
    Der Seemann Spink aus Grimsby konnte mehr Geschichten
erzählen als drei Dorfeichen zusammen, vor allem war er weiter herumgekommen.
Mit zwölf Jahren hatten sie ihn zum Dienst gepreßt, dann war er auf der kleinen Pickle unter Lapenotière gefahren, in französische
Gefangenschaft geraten, ausgebrochen und mit einem gewissen Hewson quer durch
Europa geflüchtet bis nach Triest. Von einem elsässischen Schuhmacher erzählte
er, dessen Stiefel die Schritte verlängerten, so daß sie beinahe doppelt so
schnell marschiert seien, wie ein Franzose laufen könne. Von alemannischen
Frauen im Schwarzwald erzählte er, die unter ihren zeltähnlichen Sonntagsröcken
zwei bis drei Flüchtlinge vor Bonaparte verstecken konnten, und mitten in
Bavaria hätten sie ein Boot mit nur einem Riemen über den stürmischen See Gemse
gerudert und dann, im Fischerdorf am Ostufer, einen zarten Braten mit einem
wundersamen Kloß verzehrt, wonach sie ganze vierzehn Tage lang ohne Pause
hätten zuwandern können, ohne auch nur das geringste zu essen, so wahr er Spink
heiße.
    Alle rannten aufs Deck: ein Narwal war gesichtet worden,
ganz deutlich ragte sein Horn. Das war ein böses Vorzeichen. Es gab nur ein
einziges, das noch schlimmer war: wenn die Schiffsglocke von allein zu läuten
begann. Aber das kam nie vor, oder es konnte nicht mehr erzählt werden, weil
die Schiffe bald darauf untergingen mit Mann und Maus.
    Niemand verlor ein Wort darüber. Schließlich erwarteten sie im
offenen Polarmeer jenseits der Eisbarriere noch ganz andere Lebewesen von
riesigen Ausmaßen. Die Admiralität rechnete sogar damit, daß diese nach dem
Schmelzen des Packeises südwärts zu den atlantischen Handelsrouten vordringen
und das eine oder andere Schiff verschlingen würden.
    Auch wenn in der Mannschaft der Trent keiner abergläubisch war – ganz ohne Furcht konnte niemand sein.
    Aufsässig oder faul war keiner. John hatte sich schon darauf
eingestellt, irgendwann die erste Strafe anordnen zu müssen, aber noch war
derlei nicht in Sicht. Seit geraumer Zeit mußte jeder Kommandant ein
Strafenbuch führen. John schlug es jeden Abend auf und trug ein: »Keine Ordnungswidrigkeit
heute.«
    Aus George Back wurde er nicht klug, oder vielmehr: er wurde, was
Back anlangte, aus sich selbst nicht klug. Da blieb eine Scheu, eine
Verlegenheit, eine Wachsamkeit. Dienstlich war es nicht zu begründen.
    John schob den Fall beiseite. Es war besser, ihn überhaupt nicht zu
verstehen, als ihn mißzuverstehen. Womöglich rettete ihm dieser Back dann eines
Tages das Leben! Instinkte waren gut, aber nur wenn sie sich deutlich ausdrückten.
    Ein wenig Wachsamkeit blieb.
    Er hatte jetzt den Mut, Wiederholungen zu verlangen,
Ungeduld nicht zuzulassen, anderen die eigene Geschwindigkeit aufzuzwingen zum
Besten aller: »Ich bin langsam. Richten Sie sich bitte danach!« Das bekam Back
zu hören, ganz freundlich, und seine Meldungen wurden brauchbar. Mann über
Bord, Feuer im Schiff? Kein Grund zum Verschlucken ganzer Silben. Wichtig war,
daß der Kapitän verstand, wo, was und wann. Konfusion war gefährlicher als
jeder äußere Notstand, und die Konfusion des Kapitäns war am gefährlichsten,
das lernten sie.
    Ausdauer. Er brauchte keinen Schlaf, er übte wieder Wendungen und
Vokabeln wie als Schiffsjunge. Die Befehlsanfänge etwa: Mr. Beechey, seien Sie
doch bitte so gut und lassen Sie … Mr. Back, würden Sie freundlicherweise …
Kirby, Sie sorgen sofort dafür, daß.
    Er dachte wieder über den starren Blick nach. Der war und blieb
gefährlich. Aber wenn dieser Blick nicht mehr Kriegsdienst war, und wenn er nur
selten angewandt wurde, dann war er nicht mehr Sklavenschnelligkeit, sondern
die nötige Sekundenkraft eines guten Befehlshabers, der sich im allgemeinen
mehr aufs Studium der Einzeldinge und aufs Träumen verlegte. Langsamkeit kam zu
Ehren, Schnelligkeit stand zu Diensten. Der Überblick war kein guter Blick,
denn er übersah zu viel. Die Geistesgegenwart, zur Regel

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