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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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Gilfillan, der Schiffsarzt, aus seiner
Kammer und rief: »Ich glaube, unter meinem Bett rinnt es!«
    Franklin ging mit dem Zimmermann hinunter und ließ sich die Stelle
zeigen. Unterhalb von Gilfillans Koje war der Raum mit den geistigen Getränken.
»Da darf nichts rinnen«, beschloß der Kommandant. Sie horchten in die Rumkammer
hinein: ja, da rann etwas! Der Proviantmeister prüfte die Bestände, es fehlte
nichts. So fanden sie das Leck.
    Ein Werftarbeiter hatte einen verfaulten Bolzen herausgenommen und,
statt den neuen einzusetzen und zu sichern, die Lücke nur mit einem Batzen Teer
überschmiert. Der hielt zwar kein Wasser ab, verhinderte aber die Sicht auf das
Loch.
    Als die Trent wieder dicht war, rann nur noch
einiges durch die Kehlen. Stunden später kamen alle wieder auf die Beine und
stellten fest, daß das Schiff im offenen Wasser schwamm.
    Das Eis tat, was es wollte.
    Eissturmvögel sahen sie, die auf Fischjagd in den Wellentälern
entlangflogen, so dicht, schien es, wie eine Kugel durch den Lauf. Dorsche,
schimmernd wie Goldkristalle, lagen im niedrigen Licht auf die Decksplanken
gebreitet wie ein gehobener Schatz. Bären sahen sie, weiße Fellhaufen,
unaufhaltsam angelockt vom brennenden Tran, wie sie über die Schneehügel und
durch die Wassertümpel immer näher heranwalzten, nichts konnte sie aufhalten.
    Einmal, als sie mit dem Boot unterwegs waren, versuchte eine Herde
Walrosse es mit Stoßzähnen und Rundschädeln zum Kentern zu bringen, ein
wütender gemeinsamer Angriff. Als sie wenig später auf einer Eisscholle
standen, versuchten die Tiere mit ihrem Gewicht das andere Ende
herunterzudrücken, sie luden zu einer Rutschpartie ein, die auf ihren
Stoßzähnen geendet hätte. Die Seeleute schossen ihre Musketen ab, aber erst als
der schwere Leitbulle tot war, schwamm die Herde endgültig davon.
    Die nächste Fußwanderung wurde noch gefährlicher, weil dicker Nebel
aufkam, jeder Mann mußte den anderen an der Jacke fassen. Auf den eigenen
Spuren wollten sie zum Schiff zurückwandern, John Franklin kontrollierte die
Richtung mit dem Kompaß. Aber an den Spuren fiel auf, daß sie merkwürdig frisch
waren, zudem wurden sie immer zahlreicher. Dem Kompaß und der Zeit nach hätte
die Gruppe schon längst wieder beim Schiff sein müssen.
    Sie hatten sich verirrt und waren im Kreis gelaufen.
    John befahl, ein Notlager aus Eisplatten zu bauen. Reid machte
keinen Hehl daraus, daß er lieber weitergegangen wäre, einfach querab von der
bisherigen Richtung.
    Â»Dabei bleiben wir warm, und irgendwo müssen wir ja ankommen!«
    Â»Ich nehme mir Zeit, bevor ich einen Fehler mache«, entgegnete
Franklin freundlich.
    Er befahl, daß sich alle so warm wie möglich einpackten und um die
Tranlampe setzten. Die Musketen waren für den Fall, daß sich ein Eisbär hier
umsah, gut geladen.
    John kauerte und überlegte. Was die anderen ihm auch sagten,
Vorschläge, Theorien, Fragen – er nickte nur und überlegte weiter.
    Selbst als Reid zu Back hinüberraunte: »Du hattest recht mit
›Handicap‹«, schob John alle Fragen, die sich stellen ließen, weit weg. Er
brauchte jetzt nur Zeit.
    Eine Weile später fragte Reid: »Wollen wir hier einfach nur warten,
Sir?« Aber John war immer noch nicht fertig. Mochte auch der Tod bevorstehen,
das war kein Grund, eine Überlegung vorzeitig zu beenden. Schließlich stand er
auf:
    Â»Mr. Back, Sie schießen alle drei Minuten eine Muskete ab, insgesamt
dreißigmal. Danach schießen Sie alle zehn Minuten, drei Stunden lang, danach zu
jeder Stunde einmal, zwei Tage lang. Wiederholen Sie!«
    Â»Sind wir dann nicht tot, Sir?«
    Â»Möglich. Aber bis dahin schießen wir. Bitte, die Bestätigung!«
    Back wiederholte stotternd. Als niemand mehr mit einer Erklärung
rechnete, sagte John: »Das ganze Eisfeld dreht sich. Es ist die einzige Lösung.
Deshalb gehen wir im Kreis, auch wenn wir nach dem Kompaß immer in derselben
Richtung marschieren. Bei Wind hätten wir es sofort gemerkt.«
    Vier Stunden später hörten sie dünn einen Schuß durch den Nebel, und
dann immer wieder Antworten auf die ihrigen. Eine Stunde danach vernahmen sie
rufende Stimmen, schließlich wurden Männer mit Seilen sichtbar, und hinter
ihnen, kaum hundert Fuß entfernt, das ragende Heck der Trent.
    Â»Sie haben ein

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