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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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benennen, was er
sah, aber das gelang schlecht. Es war eher eine Musik, die man in Notenschrift
hätte schreiben müssen. Das feingerippte Meer umspielte und trug die Eisfiguren
wie ein Takt, und sie selbst hatten, wie Klänge, eine Harmonie, obwohl sie doch
etwas Gesplittertes und Geborstenes waren. Aber sie wirkten ruhig und zeitlos,
so etwas konnte nicht häßlich sein. Hier war es friedlich. Weit hinten,
irgendwo im Süden, sorgte die Menschheit für das Elend der Menschheit. In
London war die Zeit etwas Gebieterisches, jeder mußte mit ihr mithalten.
    Jenseits des 81. Breitengrades wurden die Schollen zu
Plattformen und diese zu Inseln. Und irgendwann stand die Trent beim schönsten Dwarswind und rührte sich nicht mehr vom Fleck. »Warum geht es
nicht weiter?« rief Reid von unten herauf, und wenige Minuten später kam der
Maat Kirby an Deck: »Warum fahren wir nicht?«
    Das Warten machte die Mannschaft unruhig. Dabei sprach nichts, aber
auch gar nichts gegen das Warten. Vielleicht drifteten die Schiffe sogar
zusammen mit dem Eisfeld in die richtige Richtung? Aber da kam schon das Signal
von der Dorothea. Buchan befahl: »Eis aufhacken,
Schiff schleppen!«
    Zehn Männer versuchten mit Äxten und Spaten das Eis vor dem Bug zu
öffnen, zehn weitere stemmten sich ins Seil, gut zwei Schiffslängen voraus.
Nach einigen Stunden waren alle so erschöpft, daß sie am Ende der Wache grundlos
kicherten, um nicht zu heulen. Und doch geschah die ganze Anstrengung nur, um
ihre und Buchans Ungeduld zu besänftigen. Sie taten auch das Unsinnigste, wenn
sie dadurch das Gefühl hatten, daß es weiterging.
    Und wenn das Eisfeld nun nach Süden driftete statt nach Norden? Dann
war erst einmal fraglich, ob Buchan es überhaupt merkte. Er fuhr gern »nach
Gefühl«.
    John befahl, daß die Zugmannschaft wenigstens durch Musik
aufzuheitern sei. Der Matrose Gilbert ging vorneweg und fiedelte. Er war dafür
ganz der richtige Mann. Sein Saitenspiel verfügte zwar über eine gewisse Anzahl
unterschiedlicher Töne, aber auch wieder nicht derart, daß man stehenbleiben
und lauschen wollte.
    Seltsam: je näher John dem Ziel kam, desto mehr spürte er,
daß er es gar nicht mehr brauchte. Die völlige Stille, die absolute
Zeitlosigkeit, was sollte er ernstlich damit? Er war Kapitän und hatte ein
Schiff, er wollte kein Stück Küste mehr sein, kein Uferfelsen, der in die
Jahrtausende schaute und an nichts schuld war. Die Uhrzeit war nötig wie Maß
und Gewicht, weil auf der Welt Güter und Arbeit gerecht verteilt werden mußten.
Die Sanduhr mußte umgedreht werden, die Schiffsglocke alle halbe Stunde glasen,
damit Kirby nicht länger zu pumpen hatte als Spink und Back nicht länger zu
frieren als Reid. Das würde auch am Pol nicht anders sein, und John war damit
zufrieden, weil er jetzt ohnehin mit allem zufrieden war, außer vielleicht mit
Buchans Oberkommando.
    Es zog ihn zum Pol, unbedingt, aber nicht, weil er von dort her
alles neu anfangen wollte. Es hatte ja schon angefangen! Das Ziel war wichtig
gewesen, um den Weg zu erreichen. Den hatte er nun, auf dem ging er, und der
Pol wurde wieder zum geographischen Begriff. Er hatte nur die Sehnsucht,
unterwegs zu bleiben, genau wie jetzt, auf Entdeckungsreise, bis das Leben
vorbei war. Ein Franklinsches System des Lebens und des Fahrens.
    Buchan hatte Sterne geschossen und gerechnet. Franklin
auch. Buchan kam auf 81 Grad 31 Minuten, Franklin auf 80 Grad 37 Minuten.
Buchan rechnete mit etwas dunklerer Gesichtsfarbe noch einmal nach und kam John
bis auf einige Minuten entgegen, die nur seiner Ehre dienten. Das Eis driftete
offenbar schneller südwärts, als man sich nordwärts voranhacken konnte.
    Und dann schlichen zwei riesige Eisfelder aufeinander zu, nahmen die Dorothea in die Mitte und klemmten sie ein, daß die
Spanten krachten. Sie wurde sogar ein Stück emporgehoben. Wenig später ging es
der Trent ähnlich, wenn auch glimpflicher. Jetzt
saßen sie fest wie angenietet. Wie zum Hohn kam von achtern ein Eisberg immer
näher herangerückt.
    Â»Möchte wissen, wie er das macht«, sagte Spink, »vielleicht zieht
ihn jemand dort unten.« Er wies in die See und meinte es im Spaß, aber alle
dachten wieder an den Narwal und schwiegen.
    Es war ohnehin so still wie nie zuvor, denn das Schiff rührte sich
keinen Zoll mehr. Plötzlich stürmte

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