Die Entdeckung der Langsamkeit
leichter
vorgestellt. Er brauchte fast eine Viertelstunde.
Was so ein Sturm alles ändern konnte! Reid sprach plötzlich
nicht mehr mit Back, oder wenn, dann kühl und ironisch. Manchmal zog er sich
zurück, und wenn er wiederkam, sah er aus, als hätte er geweint. Spink schien
ihn zu verstehen. Er erzählte dem jungen Mann eine lange Geschichte, ihm ganz
allein. Es ging um seine Erlebnisse bei den Patagoniern, jenen riesenhaften
Menschen im Süden Südamerikas, die mehrere Stiere zugleich bei den Hörnern
packen konnten und bei denen Gleichheit in der Liebe herrschte. Es gebe dort
keine Bevorzugungen, die Liebe sei allgemein wie die Luft zum Atmen. Aber
gerade das schien ein Punkt zu sein, der Reid Kummer machte, da hatte er doch
wirklich Tränen in den Augen! Das Leben gerettet, die Schiffe, die Kameraden â
und da weinte er, weil er mit Bestimmtheit glaubte, daà irgendein Jemand einen
anderen liebte.
»Bei den Midshipmen kenne sich einer aus!« sagte Beechey.
»Geben Sie ihm einen Haufen Arbeit«, antwortete Franklin, »er soll
nicht weinen, sondern seinen Beruf lernen.«
Die Positionsbestimmung ergab, daà sie den 82. Breitengrad
überschritten hatten. John legte sich Dr. Ormes Abhandlung über den Schüler F.
zurecht. Er war jetzt kein Schüler mehr, er konnte das lesen.
Er war sogar gespannt darauf. »Die Entstehung des Individuums durch
Geschwindigkeit« â er hatte immer befürchtet, in der Schrift könne stehen, wie
es mit ihm weitergehen würde. Jetzt hoffte er das sogar, denn etwas Schlechtes
konnte es nicht mehr sein.
Dr. Orme gebrauchte schwierige Wendungen wie: »Die Verschiedenheit
der Menschen, insofern sie sich, gemessen an einer beliebigen Menge
wahrnehmbarer Einzelerscheinungen, durch den Grad der Vollständigkeit ihres
Sehens unterscheiden.« Die Verschiedenheit begründete Dr. Orme nicht etwa mit
mechanischen Eigenschaften des Auges oder des Ohrs, sondern mit einer
Einstellung des Gehirns: »Langsam ist der Schüler F., weil er alles, was ihm
einmal aufgefallen ist, sehr lang ansehen muÃ. Das ins Auge gefaÃte Bild bleibt
zur gründlichen Erforschung stehen, nachfolgende gleiten unbesehen vorüber.
Schüler F. opfert die Vollständigkeit zugunsten der Einzelheit. Für die
letztere wird der ganze Kopf gebraucht, und es dauert seine Zeit, bis für eine
nächste wieder Platz ist. Daher kann der Langsame keine schnellen Entwicklungen
verfolgen â«
Aber ich habe die Blindheit und den starren Blick, dachte John,
warum hat er das nicht erwähnt?
»â kann aber alles Einzigartige und die allmählichen Entwicklungen
besser erfassen.«
Danach schrieb Dr. Orme über die »fatale Beschleunigung des
Zeitalters«: er schlug vor, die Geschwindigkeit aller Individuen mit Geräten zu
messen und dann zu entscheiden, wofür jedes sich besonders eigne. Es gebe
»Ãberblicksberufe« und »Einzelheitsberufe«. Viele sinnlose Anstrengungen und
Leiden erübrigten sich bei rechtzeitigem Messen der Geschwindigkeit. Schon in
der Schule könne man Abteilungen für schnelle und für langsame Kinder
einrichten.
»Man lasse die Schnellen schnell und die Langsamen langsam sein,
jeden nach seinem aparten ZeitmaÃ. Die Schnellen können in Ãberblicksberufe
gebracht werden, die der Beschleunigung des Zeitalters ausgesetzt sind: sie
werden das gut vertragen und als Kutscher oder Parlamentsabgeordnete beste
Dienste tun. Langsame Menschen hingegen lasse man Einzelheitsberufe wie Handwerk,
Arztgewerbe oder Malerei lernen. Aus dieser Zurückgezogenheit werden sie auch
den allmählichen Wandel am besten verfolgen können und die Arbeit der Schnellen
und Regierenden vom Ergebnis her sorgsam beurteilen.«
Flora Reed würde vor Zorn ganz leise werden, dachte John. Von
Gleichheit keine Spur! Aber das hatte er zu früh gedacht, denn nur wenige
Zeilen später kam Dr. Orme gerade von dieser seiner Theorie her zum allgemeinen
Wahlrecht. Alle vier Jahre sollte die Bevölkerung Englands, und vielleicht sogar
nur die Langsamen â auch die Frauen! â, unter den bewährtesten Schnellen die
Besten aussuchen und so eine neue Regierung wählen.
»Gerade der Langsame«, argumentierte Dr. Orme, »weià nach vier
Jahren treffend zu beurteilen, was sich geändert hat und wie ihm mitgespielt
worden ist.«
John überlegte sehr
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