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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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das Schiff still. Kaum
war noch Seegang zu spüren, vom Wind kein Hauch. Wo war denn der geblieben?
    Jetzt wurden die vorbereiteten Fender klargemacht, dick ausgestopfte
Walroßhäute, die das Schiff vor weiteren Reibungen und Stößen schützten.
    Der Koch, ein Mensch mit Holzbein, humpelte aus der Kombüse und
erschien mit blasser Gesichtsfarbe an Deck: »Sind wir an Land? Müssen wir
aussteigen?«
    Wie konnte man der Dorothea helfen? Erst einmal hinaufkommen über die Glaswände! Der erste sprang von der
vorderen Bramrah auf die Eiskante hinüber, Spink natürlich, laut lachend. Er
schlug eine Talje an, mit der Menschen, Gerät, loses Tauwerk und vor allem das
gesamte Ankertau der Trent hinaufgehievt werden
konnten. John Franklin hatte wieder einen Plan, daran gab es keinen Zweifel.
Niemand hielt es für nötig, irgendwelche Fragen zu stellen. Nur Beechey, der
beim Schiff bleiben mußte, sagte kurz: »Viel Glück, Sir! Ich wette, Sie kriegen
alle aus dem Wrack.« »Aber nein«, antwortete John, »wir kriegen das Schiff in
Sicherheit. Hundert Schritte vor ihrem Bug ist eine Einfahrt wie die unsrige.«
Back hatte zugehört: »Woher wissen Sie das?«
    Â»Sir. Ich werde mit Sir angeredet«, antwortete John betont langsam.
»Die Einfahrt habe ich gesehen.«
    Eine halbe Stunde lang kämpften sie sich über die zerklüftete
Hochfläche des Eises, dann waren sie auf der Klippe über der Dorothea. Tief unten wälzte sie sich noch immer gegen die
Eiswand, längst umgeben von den Trümmern ihrer Rahen und Spieren und eines
ihrer Boote – wie viele mochten bereits umgekommen sein?
    In großer Eile wurde das Ende des Ankertaus zur Dorothea gefiert und einige Zeit später ein Widerlager rund um die mächtige Kuppe
jenseits des Fjords ins Eis gehackt. Gut, daß Buchan rasch verstand. Die
Ankerseile wurden zu einem verspleißt, am Fuß des Fockmastes belegt und droben
im Eis durch die Führung des Widerlagers gezogen. Der Sturm ließ etwas nach,
aber die Dünung war furchtbar wie zuvor.
    Fünfundzwanzig Mann standen in den vorgehackten Trittlöchern und
stemmten sich ins Seil. Das Schiff rührte sich kaum von der Stelle. Allenfalls
zollweise. John teilte zwei Schichten ein und zog die Uhr aus der Tasche. Jede
Gruppe schuftete zehn Minuten, dann war die andere dran. Wer das Seil losließ,
sank um wie bewußtlos, einige erbrachen sich. Vermutlich wurde das Schiff durch
das einströmende Wasser immer schwerer. John ließ alles vorbereiten, um die
Überlebenden vom Wrack zu holen, und die erschöpfte Mannschaft fand, man sollte
lieber gleich damit anfangen.
    Â»Schon zwei Stunden!« keuchte Kirby mit fahlem Gesicht. »Wir müssen
sie aufgeben.«
    Â»Er hat kein Zeitgefühl!« keuchte Reid zurück. Wenn er Atem gehabt
hätte, hätte er noch mehr gesagt. Eine Stunde später konnte er auch den ersten
Satz nur noch denken, reden war keinem mehr möglich. Die ganze Zeit zog John
mit am Seil, obwohl es sich für einen Offizier nicht schickte. Aber ihn fror an
seinem nackten Arm.
    Mit einem Mal kam das Schiff! Länge um Länge schob es unter der
Klippe weiter voran. Jetzt ließ Buchan vorn die Segel klarmachen und, als die Dorothea vor der Lücke lag, entfalten. Mühsam schlurfte die
halbzerschlagene Brigg in die Einfahrt, einem vollgesogenen Schwamm ähnlicher als
einem Schiff Seiner Majestät.
    Gerettet! Ein einziges Boot verloren, aber zwei Schiffe gerettet und
alle Mann wohlauf.
    Back ging zu John Franklin und sagte: »Sir, ich bitte Sie um
Entschuldigung. Wir verdanken Ihnen das Leben.«
    John sah ihn an und bekam nach all der Anstrengung die
Kapitänsfalten nicht so schnell aus dem Gesicht. Wofür bat Back um
Entschuldigung? Für Tom Barker, dachte er. Seltsamer Gedanke.
    Als Kommandant brauchte er nicht immer nachzufragen, wenn er etwas
nicht verstanden hatte. Er konnte sich aussuchen, was er wissen mußte, und
Backs Beweggründe zählten nicht dazu. Back wurde unsicher und wollte sich
wieder abwenden. Aber da nahm ihn John einfach statt jeder Gegenrede um die
Schultern und umarmte ihn.
    Beechey hatte inzwischen mit nur fünf Mann die Trent gesichert und die ersten Lecks abgedichtet. John umarmte auch ihn.
    Der Segelmacher wollte Johns Jackenärmel aus der Schiffsglocke
lösen, um ihn wieder anzunähen. Aber das mit dem Knoten hatte er sich

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