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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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seine
Kinder, die ihn lieben und verehren. Er ist voller Güte, aber er hat auch die
Macht, die Menschen zu zwingen. Das ist niemals nötig, denn alle kennen seine
Größe und Weisheit.«
    Für die Übersetzung brauchte St. Germain diesmal höchstens ein
Viertel von Johns Redezeit. John, der ein Gefühl dafür hatte, wie lange die
Dinge dauern mußten, blieb stumm und dachte nach.
    Â»Mr. Wentzel, hat er richtig übersetzt?«
    Â»Verzeihen Sie, Sir«, sagte der Deutsche, »aber das Athabaskische
ist in der Tat äußerst –«
    Â»Mr. Hepburn«, sage John, »holen Sie doch bitte Parkinsons
Chronometer, den mit dem Sekundenzeiger.«
    Er schrieb nun St. Germain vor, daß die Übersetzung nicht länger
oder kürzer zu dauern habe, als er, Franklin, für das Original benötigte.
Hepburn überwachte das, und siehe, es ging!
    Akaitcho saß da wie vorher, unbewegt, aber seine Augen verrieten,
daß er an dem Vorfall großes Vergnügen hatte.
    John fuhr fort. Der oberste weiße Häuptling wolle seinen
indianischen Kindern noch mehr schöne Dinge zukommen lassen als bisher, und
deshalb solle am Eismeer ein Platz gefunden werden, an dem die größten Kanus
der Erde landen könnten. Auch wolle der oberste Häuptling mehr über das Land,
über die Indianer und die Eskimos erfahren. Es schmerze ihn sehr, daß die
Indianer mit den letzteren, die er ebenfalls als seine Kinder ansehe, nicht
immer in Frieden lebten. Zuletzt eröffnete John dem Indianer, daß nur noch
wenige Vorräte da seien. Die wollte er gern aufteilen, aber danach seien alle
davon abhängig, daß die Indianer fleißig auf die Jagd gingen. Er würde ihnen
dafür Munition geben.
    Akaitcho hatte begriffen, daß John die Versöhnung mit den Eskimos
sehr wichtig nahm. Er gestand ein, daß es Kriege gegeben habe, aber nun sei der
Stamm von Sehnsucht nach Frieden erfüllt. Leider seien die Eskimos sehr
tückisch und unzuverlässig.
    Als John am Nachmittag die Unterredung und alle ausgehandelten
Einzelheiten überdachte, freute er sich nicht nur über den Erfolg für die
Expedition, sondern auch über die Art, wie er zustandegekommen war. Er nahm ihn
als Beweis dafür, daß Frieden überall dort entstand, wo man nicht schnell,
sondern langsam aufeinander zuging. Das war etwas für das Franklinsche System
und für die Ehre der Menschheit. John nahm einen Schluck Rum darauf.
    Ferner war ihm aufgefallen, daß Akaitcho ihn sogleich als den
Höchstrangigen erkannt und ihm gegenüber Platz genommen hatte, obwohl er nicht
in der Mitte saß. Er befragte St. Germain darüber.
    Â»Der Häuptling war der Meinung, daß Sie mehrere Leben haben, Sir:
wegen Ihrer Stirnnarbe und, verzeihen Sie, wegen Ihres – ›Reichtums an Zeit‹.
Und wer unsterblich ist, muß der Chef sein. So dumm sind die Indianer!« John
sah den Dolmetscher düster an.
    Â»Woher wissen Sie, daß der Häuptling irrt?«
    Am 2. August stiegen sie in die Kanus: über zwei Dutzend
Männer und ein weiteres Dutzend indianischer Frauen und Kinder.
    Die Namen seiner Voyageurs kannte John Franklin jetzt auswendig:
Peltier, Crédit und Vaillant – die Großen. Perrault, Samandre und Beauparlant –
die Kleinen. Benoits Name widerstand Johns Kopf am längsten, das kam daher, daß
Benoit so melancholisch dreinblickte. John unterhielt sich mit ihm. Er war kein
Frankokanadier, sondern Franzose, kam aus einem Dörfchen namens St. Yrieix-la-Perche in der Nähe von Limoges und hatte auch nach zehn Jahren noch
Anfälle von Heimweh. So behielt man einen einfachen Namen durch die Kombination
mit einem komplizierten.
    Jean-Baptiste und Solomon Bélanger waren Brüder, die einander nicht
liebten. Ein dritter Bélanger war Seemann gewesen und in der Schlacht von
Trafalgar umgekommen. »Scharfschütze?« fragte John und biß in einen Zwieback,
hielt ihn aber sogleich im Munde still, um die Antwort zu hören. »Nein,
Kanonier«, antwortete Solomon. John kaute weiter.
    Vincenzo Fontano stammte aus Venedig. Der einzige Indianer unter den
Voyageurs war Michel Teroaoteh, ein Irokese vom Stamm der Mohawk.
    Von den Kupferminenindianern blieb neben Akaitcho zuerst der
knollennasige Fährtensucher Keskarrah im Gedächtnis. Er hatte eine unglaublich
schöne Tochter von neunzehn Jahren, und sie blieb jedem Mann

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