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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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Untertreiben
liegen hundert Prozent. Der Schäfer hatte sich aber selbst nicht daran
gehalten.
    Sie trafen beide mit roten Ohren bei Mr. Williams ein. Indischer
Tee, Schiffszwieback und Corned Beef, aber keine guten Nachrichten über die
Versorgung der Expedition.
    Auf dem Heimweg erwog John, ob ein kleiner Teil der Mannschaft
bereits im Winter nach Fort Chipewyan vorausreisen sollte, um bei den
Pelzhandelsstationen Vorräte zu beschaffen.
    Back stimmte begeistert zu. »Wir beide, Sir!« Aber als der
Abreisetag näherrückte, bestimmte John als Begleitung außer Back auch noch
Hepburn. Back war enttäuscht und für eine Weile nicht mehr so unterhaltsam.
Backs Hunger war durch Gerechtigkeit und Vernunft nicht zu stillen. Aber etwas
anderes kam für einen Befehlshaber nicht in Frage. Das Schicksal mochte seinen
Lauf nehmen.
    Sie verließen Cumberland House am 15. Januar 1820 auf Schneeschuhen,
mit zwei Voyageurs und zwei von Indianern geführten Hundeschlitten, die mit
Nahrung so hoch bepackt waren, daß kaum mehr der Sextant darauf Platz hatte.
Für die Hunde mußte im tiefen Schnee gespurt werden, sonst sprangen sie nur
herum und ärgerten einander.
    Tage- und wochenlang ging es durch weitgestreckte Wälder aus
Riesenbäumen, um deren Wipfel der Wind rauschte. Das hätte schön sein können,
wären nicht die Schneeschuhe gewesen, eine Strafe für alles Schlimme, was man
je getan haben mochte. Sie hingen an den Stiefeln wie mächtige Entenfüße aus
Holz und Geflecht, und aus ihrem Kilogewicht schienen Zentner zu werden, wenn
Schnee und Eis sie verkrustet hatten. Für Schneeschuhe war der Mensch falsch
entworfen: zwischen den Knöcheln hätte ein viel größerer Abstand sein müssen!
Schon nach wenigen Meilen blieb der Schmerz dauerhaft, denn es war immer
derselbe Punkt, wo die Kante des Entenfußes zuschlug. »Seid langsamer!« mahnte
John, »dann spart ihr Kraft.«
    Back war stark, frisch und schnell. Zu schnell! Vielleicht wollte er
nur bei jeder erdenklichen Gelegenheit mehr aushalten als John. Das war ein
etwas zweifelhafter Kraftquell, aber er wirkte.
    Back eilte voraus! Back wartete ungeduldig! Back ergriff die
Initiative! Und sein Lächeln kam John immer gefräßiger vor.
    Â»Warum so schnell?« fragte John. »Es ist ein weiter Weg.«
    Â»Eben!« antwortete Back frech und grinste. Hepburn ärgerte sich
sichtlich, aber er war im Rang niedriger und hatte sich zurückzuhalten. Back
ließ ihn ohnehin fühlen, daß er ihn als ein Hindernis empfand. Dabei war es
John, der das Reisetempo ganz bewußt verzögerte.
    Die Voyageurs schauten gedankenvoll an ihren Nasen entlang und
schwiegen. Sie hätten mit Back mithalten können, aber für sie war die Reise
eine Lohnarbeit, bei der Extraleistungen keinesfalls zur Selbstverständlichkeit
werden durften. Außerdem wußten sie zwischen einem Commander und einem
Midshipman zu unterscheiden.
    Als sie Rast machten, obwohl Back längst weit voraus war, sagte
Hepburn beiläufig zu seinem Vorgesetzten:
    Â»Er will es uns zeigen!« Dann salbte er seine geschundenen Knöchel,
als sei nichts gewesen, und John Franklin hantierte mit Kompaß und Sextant
lange Zeit, bis er antwortete. »Kraft kann auch etwas anderes sein als nur
Schnelligkeit«, sagte er und peilte durch den Diopter.
    John Franklin war es, der die Pausen machte, und zwar auch dann,
wenn er selbst sie nicht nötig hatte. Nicht der Navigator brauchte die Pause,
sondern die Pause den Navigator. Dieser Back war ein Riese an Ehrgeiz, aber bei
allem, was sich hinzog, ein Zeitzwerg.
    Ende März trafen sie in Fort Chipewyan ein. John ging sofort
zu den Repräsentanten der Pelzgesellschaften, um nach den vorgesehenen Vorräten
zu fragen. Es war genau, wie er befürchtet hatte: viel Freundlichkeiten, viele
leere Worte, nirgends Vorräte. Als er hartnäckiger wurde: die Freundlichkeit
etwas kälter, der Spott etwas erkennbarer. »Alles, was in meiner Macht steht«,
nannte Statthalter Simpson das, was er für die Expedition tat. Aber es war
leider nicht viel – es war auf brutale und entwürdigende Weise so gut wie
nichts. Die Hudsonbaigesellschaft verwies an die Nordwestgesellschaft, und
diese wieder an die Hudsonbaigesellschaft. Sie bekämpften sich offensichtlich
schon seit Jahren bis aufs Messer. Keine wollte sich einen Nachteil einhandeln,
indem sie mehr zu der

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