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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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müssen, denn die Vorräte
reichten nicht, sie mußten durch fortwährendes Jagen aufgestockt werden. Nur
die Indianer verstanden sich hierzulande auf die Jagd so gut, daß sie noch
andere miternähren konnten. Wentzel versprach, ein Treffen mit dem Häuptling
der Kupferminenindianer zu arrangieren, der bei der Nordwestgesellschaft
Schulden hatte und daher vielleicht mit seinen Kriegern als Begleitung zu
gewinnen war, wenn man ihm einige Versprechungen machte.
    John Franklin stellte bekümmert fest, daß er immer nervöser und
reizbarer wurde, je näher die Begegnung mit den Indianern heranrückte. Alles
hing von ihnen ab, und er wußte über sie so gut wie nichts! Für die athabaskische
Sprache hatte er zwei Dolmetscher dabei: Pierre St. Germain und Jean Baptiste
Adam. Wentzel schien ungeheuer viel zu wissen, aber seine Redeweise war
ermüdend enzyklopädisch wie die eines Sammlers mit Zettelkasten: »Die
Tsantsa-Hut-Dinneh sind kriegerischer, aber auch zuverlässiger als die
nördlicher wohnenden Thlin-Cha-Dinneh, die man vulgo als Hundsrippenindianer
bezeichnet. Das Athabaskische ist einer der schwersten Indianerdialekte, von
der Sprache der Kenai-Völker vielleicht abgesehen, auf die ich hier nicht
weiter eingehen möchte.«
    Solche Sätze machten John nur noch unruhiger.
    Der Häuptling des Stammes hieß Akaitcho, was soviel wie
Großer Fuß bedeutete. Er war, so hieß es, ein besonnener Mensch, und das war
willkommen: fünfzig Jahre zuvor hatten die Kupferminenindianer einen
Pelzhändler namens Hearne zur Eismeerküste begleitet, und der hatte nicht
verhindern können, daß sie unter den dortigen Eskimos ein grauenhaftes Massaker
anrichteten.
    John sah die Indianer in der langen Reihe ihrer Kanus über den See
kommen. Hinter ihm waren beim Fort die Zelte errichtet, die Flagge wehte, und
neben ihm standen die Offiziere und Hepburn in Uniform. Auf Johns Befehl hatten
sie ihre Orden angelegt. Er selbst trug keinen. Sein Instinkt für Würde sagte
ihm, daß er als oberster Häuptling auf so etwas verzichten könne.
    Akaitcho stieg aus dem vordersten Kanu und schritt, ohne nach rechts
oder links zu sehen, so langsam zu den Engländern hinauf, daß John ihn sofort
vollkommen ernst nehmen konnte. Das war kein Mann, der seine Krieger über
Eskimos herfallen und ihnen Hände und Füße abhacken ließ. Und wer sich so
bewegte, der hielt auch sein Wort.
    Der Häuptling trug, im Gegensatz zu seinen Kriegern, keinen
Federschmuck. Mokassins, lange blaue Hosen, darüber ein weites Hemd mit
gekreuzten Schulterriemen, Gürtel und Pulverhorn. Von seinen Schultern hing ein
bodenlanger Mantel aus Biberpelz.
    Noch hatte er kein Wort gesagt. Unbewegt saß er da, rauchte die
angebotene Pfeife und trank aus dem angebotenen Rumglas einen so kleinen
Schluck, daß sich der Spiegel kaum senkte, dann reichte er es seinen Begleitern
hin.
    Endlich begann er zu sprechen, und St. Germain übersetzte.
    Er freue sich, so große Häuptlinge der Weißen bei sich zu sehen. Er
sei bereit, sie mit seinem Stamm nach Norden zu begleiten, obwohl er schon eine
erste Enttäuschung zu beklagen habe: man habe ihm gesagt, die Weißen hätten
sehr starke Zaubermittel und einen großen Medizinmann dabei, der Tote zum Leben
erwecken könne. So habe er sich schon darauf gefreut, seine verstorbenen
Verwandten wiederzusehen und mit ihnen sprechen zu können. Vor Tagen habe ihm
aber Mr. Wentzel gesagt, dies sei nicht möglich, und jetzt fühlte er sich so,
als seien seine Freunde und Geschwister zum zweiten Mal gestorben. Aber er
wolle das vergessen und hören, was die weißen Häuptlinge vorhätten.
    John hatte sich auf seine Erwiderung mindestens ebenso lang
vorbereitet wie Akaitcho, und er achtete darauf, noch langsamer zu sprechen als
dieser:
    Â»Ich freue mich, den großen Häuptling zu sehen, von dem ich schon
viel Gutes gehört habe.«
    St. Germain begann zu übersetzen. Es schien John, als brauche der
Dolmetscher für den indianischen Text mindestens viermal so lang wie er für den
englischen. Es fiel ihm auch auf, daß Akaitcho sich mehrmals leicht verneigte.
Seltsam, wie viele indianische Wörter aus einem Dutzend englischer zu machen
waren.
    Â»Mich schickt der größte Häuptling, den es auf der bewohnten Erde
gibt, denn alle Völker der Welt, weiße, rote, schwarze und gelbe, sind

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