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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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Rebhuhn verdankte ihm tags darauf sein Leben.
    John Franklin hatte die ausgezeichnete Idee, Back zusammen
mit Wentzel nach Fort Providence zurückzuschicken, damit sie sich um die
angekündigte Vorratslieferung kümmerten. Mürrisch reisten sie ab. Mit einem Mal
war Frieden in Fort Enterprise.
    Die Indianer jagten. Die Frauen nähten an der Winterkleidung. Hood
baute, soweit Grünstrumpf ihm dazu Zeit ließ, einen vorzüglichen Ofen, der mit
dem Holz sparsamer umging als ein offenes Kaminfeuer.
    Hood liebte das Indianermädchen immer heftiger. Freudentränen
standen in seinen Augen, wenn er sie nach wenigen Stunden der Trennung
wiedersah, und manchmal bekam man beide tagelang nicht zu Gesicht. Akaitcho und
Franklin sprachen kein Wort darüber. Sie hielten das Ereignis für zu
außergewöhnlich, um es mit naheliegenden Einwänden auszulöschen. Sie sprachen
aber über vieles andere: den Kompaß, die Sterne, die Signale, mit denen sich
die Weißen von einem Riesenkanu zum anderen verständigten, über indianische
Feste und Legenden. John schrieb sich das eine oder andere auf. Die Voyageurs
schlugen Holz und bauten eine zweite Hütte. Es wurde erschreckend schnell kalt,
Akaitcho hatte recht behalten.
    So vergingen Wochen. Hin und wieder saß John dick vermummt vor der
Hütte und schaute dem Herbststurm zu, wie er die letzten Blätter schwärmeweise
von den Ästen wehte. John wählte sich ein bestimmtes Blatt aus und wartete, bis
es fiel. Das verschaffte ihm oft viele Stunden, in denen sich ohne Ziel und
Eile nachdenken ließ. Aus Fort Providence hatte ein Krieger Post mitgebracht.
Back und Wentzel hatten dort die Vorräte nicht angetroffen und waren unterwegs
zur Moschusochsen-Insel: dort sollten sie liegen. Ferner ein Brief von Eleanor:
»An Leutnant Franklin, Commander der Überland-Expedition zum Nordmeer, c/o
Hudsonbai oder sonstwo«. Die zierliche, gute Eleanor! John sah sie vor sich,
wie sie immerfort und mit jedem über alles sprach. Die Welt war Sprache für
sie, deshalb mußte ihrer Meinung nach recht viel gesprochen werden. Eleanor war
aber stets gutgelaunt und ohne Arglist, vielleicht war sie doch die Frau, mit
der er am ehesten verheiratet sein wollte. Sie würde auch jahrelange Abwesenheiten
ihres Gatten gut aushalten, denn sie hatte die Royal Society und die
literarischen Zirkel. Gewiß, es gab noch andere Frauen – Jane Griffin zum
Beispiel, Eleanors Freundin. Sie war ebenso neugierig und belesen, hatte aber
längere Beine und dichtete nicht. Als John merkte, daß seine Gedanken bei den
Beinen verweilen wollten, schob er die ganze Jane Griffin rasch aus dem Kopf.
Leicht war Not am Mann hier in der Wildnis, und es fiel nicht leicht, sich
selbst zu helfen: die Bettstatt war aus Schilf und Fell, sie machte Lärm bei
jeder Bewegung. Alle außer Hood litten hin und wieder sehr. Blieb nur die
Pirsch, allein im Wald. Aber Gott und die Indianer sahen alles. Einmal, als
Hepburn ohne Beute von der Jagd kam und angab, er habe nichts gesichtet, sagte
der knollennasige Keskarrah mit unbewegter Miene zu St. Germain: »Wild war
schon da, aber was der weiße Mann in der Hand hatte, war vielleicht nicht das Gewehr.«
St. Germain gab das, weil Takt nicht seine Stärke war, alsbald an Hepburn
weiter, der sich erst ärgerte, aber schließlich selbst lachen mußte.
    John nahm sich wieder Eleanors Brief vor. Sie bat ihn nachzuprüfen,
ob der Pantheismus der Indianer mit dem des Lord Shaftesbury zu vergleichen
sei. Es folgte ein Absatz über Shaftesburys Lehre. Dann kam sie noch einmal auf
die Theorie vom schmelzenden Polareis zu sprechen: das zunehmend trockene
Wetter der letzten Jahre spreche sehr dafür. Zwischen der London Bridge und der
Blackfriars Bridge, so las John, sei diesen Winter die Themse ganz
ausgetrocknet, man habe ihr Bett zu Fuß durchqueren und kuriose Dinge finden
können, die im Lauf der Jahrhunderte von den Seeleuten aus Angst vor der
Zollkontrolle über Bord geworfen worden seien. Sogar ein silbernes Taufbecken
von sehr katholischem Aussehen hätte dazugehört. Gegen Ende ihres Briefes
schrieb sie: »Vor vierzehn Tagen war Tanz bei Thomsons. Ach, wären Sie doch
dabeigewesen, lieber Leutnant!« Eleanor tanzte gern Quadrillen, und immer »con
amore«. John tanzte am liebsten gar nicht.
    Abends sprach John jetzt immer häufiger mit Richardson.
Der Doktor war fromm, aber

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