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Die Entdeckung der Virtualität.

Die Entdeckung der Virtualität.

Titel: Die Entdeckung der Virtualität. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem , Bernd Flessner
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Schmerz war plötzlich wie weggeblasen, wieder spürte er gar nichts. Was war geschehen? Wo war er? Nichts! Nirgendwo! Er zerschlug und malträtierte mit dem Knie sein Gesicht und holte wie besessen immer von neuem aus: Das Brüllen brach ab. Er vernahm seinen eigenen gurgelnden Schrei, im Blut erstickt.
       Jetzt hatte er wieder Arme. Sie waren wie aus Holz und schmerzten bei jeder Bewegung so fürchterlich, als seien alle Muskelfasern gerissen, aber er konnte sie rühren. Mit starren Fingern tastete er nach den Gurten und schnallte sie ab, dann krallte er sich in die Sessellehne und stand auf. Seine Beine zitterten, sein ganzer Körper war wie gerädert. Er ergriff das Seil, das schräg durch den Steuerraum gespannt war, und taumelte zum Spiegel. Mit beiden Händen stützte er sich am Rahmen.
       Im Spiegel stand der Pilot Pirx.
       Das Gesicht war nicht mehr aschfahl, sondern blutbesudelt, die Nase eingeschlagen und geschwollen. Blut sickerte aus dem zerschlagenen Mund. Die Wangen waren noch blau unterlaufen und gedunsen, unter den Augen wölbten sich schwarze Wülste, am Hals zuckte es noch immer unter der Haut, aber langsam verebbte es schon. Ja, das war er — Pirx. Er brauchte lange, um sich das Blut vom Kinn zu reiben, er spuckte, hustete, atmete tief und fühlte sich schwach und hilflos wie ein Kind.
       Dann wandte er sich ab und sah auf den Schirm. Das Schiff flog nach wie vor rückwärts, aber bereits ohne Schub. Allein durch den Schwung. Die kleine weiße Scheibe schwebte hinter ihm am Bug, in einer Entfernung von 2 Kilometern.
       Pirx hangelte sich am Seil entlang zum Sessel zurück. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen.
       Seine Hände begannen zu zittern — erst jetzt, aber das war die übliche Schockwirkung, er kannte das, es schreckte ihn nicht. Dicht vor dem Sessel hatte sich etwas verändert...
       Die Kassette des automatischen Senders war oben eingebeult. Er stieß gegen den Deckel, der fiel herunter. Lauter zertrümmerte Teile. Wie hatte das geschehen können? Offenbar hatte er selbst dem Sender einen Tritt versetzt. Aber wann?
       Er sank in den Sessel, schaltete die Düsen ein und setzte zur Wendung an.
       Die weiße Scheibe geriet ins Schwanken, schwebte über den Bildschirm und erreichte seinen Rand, aber statt zu verschwinden, prallte sie ab wie ein Gummiball und kehrte in die Mitte des Schirms zurück!
       »Du Miststück!« schrie er voller Haß und Ekel. Und wegen so einem Drecksding wäre er um ein Haar selbst auf »stationäre Umlaufbahn« gegangen! Wenn das Pünktchen bei der Wendung weiterhin im Bild blieb, hieß das ganz einfach, daß es gar nicht existierte, daß es im Wiedergabegerät selbst erzeugt wurde! Der Leuchtschirm war schließlich kein Fenster, eine Rakete hatte ja gar keine Fenster. Sie besaß eine Fernsehempfangsanlage, und zwar außen. Im Panzer waren die Kameras installiert und innen die Verstärker, die die elektrischen Signale auf dem Bildschirm sichtbar machten. Waren sie etwa defekt? Durch welchen sonderbaren Umstand hätten sie wohl entzweigehen können? War bei den Raketen von Wilmer und Thomas der gleiche Fehler aufgetreten? Wie war das möglich? Und was war danach mit den beiden geschehen?
       Im Augenblick hatte er Wichtigeres zu tun. Er schaltete den Havariesender ein.
        Patrouillen-AMU einhundertelf an Basis, sagte er. Be finde mich an Sektorengrenze eintausendneun Strich ein tausendzehn, Äquatorzone, kehre um nach Havarie...
       Als Pirx sechs Stunden später auf der Erde landete, nahmen großangelegte Nachforschungen ihren Anfang, die einen ganzen Monat dauern sollten. Zuerst rückte man der Fernsehapparatur zu Leibe. Die neue, vervollkommnete Anlage war erst vor Jahresfrist in alle Patrouillenschiffe eingebaut worden und hatte sich glänzend bewährt. Nie hatte es auch nur den kleinsten Defekt gegeben.
       Nach langen Bemühungen entdeckten die Elektroniker endlich die Ursache für die Entstehung des Lichtpünktchens. Das Vakuum in den Kathodenstrahlröhren für die Bildwiedergabe ließ nach etlichen tausend Betriebsstunden nach — und auf der Innenfläche des Schirms entstand eine Wanderladung, die sich als milchiger kleiner Fleck auf der Lumineszenzschicht abbildete. Diese Ladung bewegte sich nach ziemlich komplizierten Gesetzmäßigkeiten im Innern. Wenn das Raumschiff mit großem Schub geradeaus flog, verteilte sie sich über eine etwas größere Fläche und wurde gleichsam auf der Innenwand des

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