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Die Entdeckung der Virtualität.

Die Entdeckung der Virtualität.

Titel: Die Entdeckung der Virtualität.
Autoren: Stanislaw Lem , Bernd Flessner
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ist ja auch möglich, in der Vision die Vorlesungen berühmter Professoren zu hören). Ein wahrer Segen wird die Phantomatik für die Blinden sein, denen sie eine ganze ungeheure Welt visueller Erlebnisse eröffnet (ausgenommen jene, die an Rindenblindheit leiden, deren kortikales Sehzentrum also beschädigt wurde), sowie auch für Kranke, Rekonvaleszenten und dergleichen. Aber auch für Alte, die noch einmal ihre Jugendzeit erleben möchten - mit einem Wort, für Millionen. Demnach werden ihre Unterhaltungsfunktionen möglicherweise von gänzlich untergeordneter Bedeutung sein. Gewiß wird sie auch negative Reaktionen hervorrufen. Es werden sich Gruppen bilden, die sie erbittert bekämpfen, Anbeter der Authentizität, welche die prompte Wunscherfüllung, wie sie die Phantomatik hervorbringt, verachten werden. Ich denke jedoch, daß es zu vernünftigen Kompromissen kommen wird, denn am Ende bedeutet Zivilisation doch immer Erleichterung des Lebens, und Entwicklung ist weitgehend nichts anderes als die Ausweitung des Bereichs solcher Erleichterungen. Selbstverständlich kann die Phantomatik auch zu einer echten Bedrohung, zu einer gesellschaftlichen Plage werden, doch das gilt ja für alle Produkte der Technologie, wenn auch in unterschiedlichem Maße: bei den Produkten der Dampf- und Elektrizitätstechnologie sind die Konsequenzen einer unsachgemäßen Nutzung bekanntlich weitaus ungefährlicher als bei den Produkten der Atomtechnologie. Aber das ist bereits ein Problem der Gesellschaftsordnung und der jeweiligen politischen Verhältnisse und hat mit der Phantomatik — oder jedem anderen beliebigen Zweig der Technik — nichts zu tun.

    Die Cerebromatik

       Ist es möglich, die zerebralen Prozesse und damit die Zustände des Bewußtseins unter Umgehung der normalen, also der biologisch entstandenen Zugangswege zu beeinflussen? Ohne Zweifel; schließlich verfügt die Pharmakochemie heute über eine große Zahl von Mitteln, welche die Hirnaktivität teils auf verschiedene Weise anregen, teils dämpfen, und es gibt sogar solche, die ihre Strömungen in bestimmte Richtungen lenken können. Viele Halluzinogene haben zum Beispiel eine spezifische Wirkung: die einen rufen eher »Gesichte«, andere nur unbestimmte Wahn- oder Glückszustände hervor. Aber ob es möglich wäre, diese zerebralen Prozesse nach unseren Absichten zu formen, zu gestalten? Kann man, kurz gesagt, das Gehirn von Herrn Smith derart »abändern«, daß er, wenn auch nur zeitweise, ein »echter« Napoleon Bonaparte wird oder daß er eine unbestreitbare und überragende musikalische Begabung zeigt oder daß er schließlich zu einem Feueranbeter wird, der von der Notwendigkeit dieses Kultes überzeugt ist?
       Hier gilt es, zunächst eine eindeutige Abgrenzung vorzunehmen. Erstens bedeuten die genannten »Abänderungen« etwas ganz Verschiedenes. Insgesamt stellen sie eine Veränderung der dynamischen Struktur des zerebralen Neuronennetzes dar, und deshalb fassen wir sie unter der gemeinsamen Bezeichnung Cerebromatik zusammen. Die Phantomatik liefert dem Gehirn »falsche Information«, die Cerebromatik »verfälscht«, das heißt »verändert« das Gehirn selbst. Darüber hinaus ist es ein Unterschied, ob man einer gegebenen Persönlichkeit ein bestimmtes Merkmal, zum Beispiel musikalisches Talent, einsetzt (sicher wird das die Persönlichkeit verändern, aber man darf annehmen, daß es dieselbe bleibt, lediglich ein bißchen umgeändert) — oder ob man aus Herrn Smith Napoleon macht.
       Der Schneider schneidert das, was der Stoff hergibt, sagt ein polnisches Sprichwort. So kann man dadurch, daß man gewisse Hirnteile (die Stirnlappen beispielsweise) außer Funktion setzt, aus einem erwachsenen Menschen ein infantiles Wesen machen, das in seinen Reaktionen einem Kind mit seinem begrenzten Intellekt und seiner emotionalen Unbeständigkeit gleicht. Man kann auch die hemmende Wirkung der Scheitellappen beseitigen und dadurch die Aggressivität des Menschen freisetzen (der Alkohol bewirkt das, insbesondere bei denen, die zur Aggression neigen). Man kann, mit anderen Worten, die individuell gegebene Aktivität des gesamten Neuronennetzes innerhalb gewisser Grenzen verschieben oder einschränken. Was man dagegen nicht kann, ist, der Psyche nicht vorhandene Merkmale hinzuzufügen — wenn man es genau nimmt. Als der Erwachsene noch ein Kind war, enthielten seine Stirnlappen Fasern, die noch nicht myelinisiert waren, und von daher besteht eine gewisse
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