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Die Entdeckung der Virtualität.

Die Entdeckung der Virtualität.

Titel: Die Entdeckung der Virtualität. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem , Bernd Flessner
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Ähnlichkeit zwischen einem Kind und einem Kranken, der an einem Schwund dieser Lappen leidet. Man kann also den Erwachsenen wie eine Uhr »zurückstellen« und zum Kind machen, wenn auch nicht vollständig, weil die verbleibenden Teile seines Gehirns »unkindlich« sind und er überdies eine Menge von Erfahrungen und Erinnerungen besitzt, die das Kind nicht hat. Man kann bei dieser oder jener Antriebsfunktion »die Bremse lösen« und so aus einem normalen Menschen einen Vielfraß, einen Erotomanen und dergleichen machen. Man kann auf diese Weise also die Persönlichkeit von ihrer normalen Ausgeglichenheit, von ihrem ursprünglichen Kurs abbringen, mehr aber auch nicht. Mit solchen Mitteln kann man Herrn Smith nicht in einen Napoleon verwandeln.
       Hier ist eine Erläuterung nötig. Wir sagten zwar, daß die Zustände der Eingänge und Ausgänge die Zustände des Bewußtseins nicht eindeutig determinieren, was man schon daran sieht, daß innerhalb eines gleichartigen Milieus unterschiedliche weltanschauliche Einstellungen entstehen, da man ein und dieselbe Information unterschiedlich interpretieren kann, doch folgt daraus nicht, daß das Bewußtsein von den ihm zugeführten Inhalten irgendwie unabhängig wäre. Wenn jemand (ein vereinfachtes Beispiel) glaubt, daß »die Menschen gut sind«, und wir ihn, sei es durch phantomatische Visionen, sei es durch eine entsprechende Inszenierung von Vorfällen, über längere Zeit unablässig mit der menschlichen Gemeinheit und Schlechtigkeit konfrontieren, dann ist es möglich, daß dieser Mensch seine Überzeugung von der Redlichkeit unserer Art aufgibt. Auch die periphere Phantomatik kann also durch geeignete Mittel auf eine Änderung der Meinungen hinwirken, selbst wenn sie schon fest verwurzelt sind. Eine solche Änderung wird um so schwieriger, je mehr Erfahrungen ein Mensch durchgemacht hat. Besonders schwierig ist es aber, metaphysische Auffassungen zu erschüttern — wegen des bereits erwähnten und für ihr Vorhandensein charakteristischen Abblockens von Informationen, die sich mit ihrer Struktur nicht vereinbaren lassen.
       Etwas anderes ist es mit der unmittelbaren cerebromatischen »Formung der Seele«, also der Beeinflussung der psychischen Prozesse unter Umgehung der afferenten Nervenbahnen — nämlich durch eine andere Gestaltung ihrer neuronalen Grundlage.
       Das Gehirn stellt keine unteilbare, geschlossene Einheit dar. Auch es besitzt zahlreiche untereinander verbundene »Subsysteme«, und diese Verbindungen sind physiologisch variabel, das heißt, daß ein bestimmter Teil des Gehirns nicht immer »Eingang« für die von anderen Gehirnteilen eintreffenden Reize sein muß und umgekehrt. Die universelle Plastizität und die dynamische Fähigkeit des Neuronennetzes, Modelle zu bilden, beruht gerade darauf, daß es potentiell fähig ist, zu verbinden oder zu trennen, wobei aus solchen Kombinationen unterschiedliche Subsysteme entstehen. Wer radfahren kann, besitzt eine bestimmte Bereitschaft solcher »gebahnten« Verbindungen, die automatisch zu einer funktionierenden Ganzheit »zusammenschießen«, sobald er sich aufs Fahrrad setzt. Jemandem das Radfahren beizubringen unter Umgehung des normalen Weges, das heißt bestimmter Übungen, allein durch unmittelbare Einführung der entsprechenden Information in sein Gehirn, ist selbst in der Theorie keine einfache Sache.
       Zwei Arten des Vorgehens sind hier denkbar. Die erste ist die »genetische«: man muß die Fähigkeit des Radfahrens (oder die Kenntnis des Korans, die Fähigkeit des Trampolinspringens und dergleichen) zur angeborenen Eigenschaft machen, sie also bereits im Genotyp des Eis programmieren, aus dem sich der Mensch und sein Gehirn entwickeln. So könnte man dahin gelangen, daß im Grunde nichts mehr erlernt zu werden braucht, weil jegliches theoretische und praktische Wissen den Chromosomen schon vor der fötalen Entwicklung »eingeprägt« ist und somit erblich wird. Allerdings würde das eine ganz beträchtliche Erweiterung der im Genotyp enthaltenen Informationsmenge, eine Komplizierurig der Kernstruktur usw. erfordern. Es ist auch möglich, daß der Genotyp oberhalb einer bestimmten Grenze ein Mehr an Information gar nicht aufnehmen kann — darüber ist uns nichts bekannt. Doch muß man diese Möglichkeit gleichfalls ins Auge fassen. Man hätte sich dann darauf zu beschränken, solche Merkmale des Genotyps zu perfektionieren, welche das Lernen, wenn sie es schon nicht ersetzen

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