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Die Entdeckung der Virtualität.

Die Entdeckung der Virtualität.

Titel: Die Entdeckung der Virtualität.
Autoren: Stanislaw Lem , Bernd Flessner
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ergeben. Behandeln wir zunächst die einfachere. Die Werke, welche die Kunst bis heute geschaffen hat, dürften in ihrer überwältigenden Mehrheit gar nicht phantomatisiert werden, denn sie würden mit Sicherheit die Grenzen des Erlaubten überschreiten! Selbst wenn der Held der Vision den frommen Wunsch äußern sollte, Podbipięta (ein edler Streiter aus einem historischen Roman von Sienkiewicz — Anm. d. Ü.) zu sein, vermeiden wir das Übel nicht, denn als Podbipięta wird er drei Türken auf einen Hieb niedersäbeln, und wollte er Hamlet sein, so wird er Polonius wie eine Ratte abstechen. Und sollte er wünschen — man verzeihe mir bitte dieses Beispiel —, das Martyrium eines Heiligen zu erleben, so hätte die Sache ebenfalls einen recht zweifelhaften Beigeschmack. Nicht nur, daß es beinahe kein Kunstwerk gibt, in dem nicht jemand umgebracht oder jemandem Böses angetan wird (auch die Kindermärchen gehören hierher: wieviel Blut wird doch in den Märchen der Brüder Grimm vergossen). Der Kernpunkt ist, daß der Bereich der Reizregulierung, also die »Zensur« des Phantomisators, die eigentliche Erlebnissphäre des Phantomatisierten überhaupt nicht erreicht. Wenn der sich auspeitschen lassen möchte, so vielleicht aus einem Verlangen nach Kasteiung, aber vielleicht auch deshalb, weil er ein ganz gewöhnlicher Masochist ist. Kontrollieren kann man nur die dem Gehirn zugeleiteten Reize, nicht aber das, was sich in diesem Gehirn abspielt, was es erlebt. Der Inhalt des Erlebnisses bleibt außer Kontrolle (in diesem Falle ist das quasi ein Minus, aber grundsätzlich kann man sagen, daß das doch ein großes Glück ist). Schon das wenige experimentelle Material, das bei der Reizung verschiedener Regionen des menschlichen Gehirns (bei Operationen) gewonnen wurde, läßt erkennen, daß gleiche oder ähnliche Inhalte in jedem Gehirn auf andere Weise fixiert sind. Die Sprache, in der unsere Nerven zu unseren Hirnen sprechen, ist praktisch bei allen Menschen dieselbe, während die Sprache oder vielmehr das Codierungsverfahren der Erinnerungen und Assoziationskreise in hohem Maße individuell ist. Davon kann man sich unschwer überzeugen, da sich nur für den einzelnen die Erinnerungen auf eine ganz bestimmte Weise verknüpfen. Einer bringt zum Beispiel den Schmerz mit erhabenem Leiden und Strafe für ein Vergehen zusammen, während ein anderer perverse Lust daraus bezieht. Hier sind wir an den Grenzen der Phantomatik angelangt, denn Einstellungen, Meinungen, Glaubensinhalte oder Gefühle kann man mit ihrer Hilfe nicht unmittelbar bestimmen. Wohl kann man den quasi materiellen Inhalt eines Erlebnisses beeinflussen, nicht aber die damit verbundenen Urteile, Gedanken, Empfindungen und Assoziationen. Deshalb haben wir diese Technik ja auch »peripher« genannt. Genau wie im realen Leben können zwei Menschen aus zwei identischen Erfahrungen ganz unterschiedliche, diametral entgegengesetzte Folgerungen ziehen (im emotionalen und weltanschaulichen Sinne, aber nicht im Sinne einer wissenschaftlichen Verallgemeinerung). Es ist zwar richtig, daß nihil est in intellectu, quod non fuerit prius in sensu (für die Phantomatik eher in nervo), doch werden die emotional-intellektuellen Inhalte nicht eindeutig von den Reizzuständen der Nerven bestimmt. Der Kybernetiker sagt: die Zustände der »Eingänge« und »Ausgänge« determinieren nicht eindeutig den Zustand des zwischen ihnen befindlichen Netzes.
       Was heißt das, determinieren nicht? wird jemand einwenden, es wurde doch gesagt, die Phantomatik mache es möglich, »alles« zu erleben, sogar, daß man z. B. ein Krokodil oder ein Fisch ist!
       Krokodil oder Hai, richtig, aber »zum Schein«, und das im doppelten Sinne. Erstens, weil es nur eine täuschende Vision ist — was wir bereits wissen. Zweitens, weil man, um tatsächlich ein Krokodil zu sein, ein Krokodil- und nicht ein Menschengehirn haben muß. Der Mensch kann im Grunde nur er selbst sein. Man muß das allerdings richtig verstehen. Wenn der Angestellte der Landesbank davon träumt, Angestellter der Investitionsbank zu werden, so läßt sich sein Wunsch ausgezeichnet erfüllen. Wünscht er dagegen, für zwei Stunden Napoleon Bonaparte zu sein, so wird er das (während der Vision) nur äußerlich sein: er wird, wenn er in den Spiegel schaut, das Gesicht Bonapartes erblicken, die »Alte Garde«, die treuen Marschälle usw. werden um ihn sein, aber er wird mit ihnen nicht französisch reden können, wenn er
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