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Die Entdeckung der Virtualität.

Die Entdeckung der Virtualität.

Titel: Die Entdeckung der Virtualität.
Autoren: Stanislaw Lem , Bernd Flessner
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farbiger und plastischer gemachten Wachtraums ist. Ihren Ersatzcharakter kann der Phantomatisierte nur anhand des Vergleichs mit der Realität beurteilen. Eine ständige Phantomatisierung vereitelt natürlich eine solche Beurteilung und muß zu dauerhaften Veränderungen führen, die im realen Leben des einzelnen nie entstehen würden. Hier handelt es sich übrigens um einen Sonderfall des allgemeinen Problems der Anpassung an ein bestimmtes Milieu und eine bestimmte Zeit.
       Wir erwähnten bereits das ernstliche Handikap, das der phantomatischen Vision dadurch anhaftet, daß sie unauthentisch ist, daß sie einen biotechnisch realisierten Eskapismus darstellt. Zur Beseitigung dieser Nichtauthentizität der Erlebnisse schlägt die Kybernetik zwei Verfahren vor. Nennen wir sie (denn schließlich müssen sie ja irgendeinen Namen bekommen) Teletaxie und Phantoplikation.
       Teletaxie bedeutet nicht, daß der Mensch »kurzgeschlossen« wird, daß man ihn an eine Maschine anschließt, die einen beliebig gewählten Ausschnitt der Realität von der Welt isoliert und dessen Wirklichkeit vortäuscht; vielmehr wird der Mensch an eine Maschine angeschlossen, die lediglich ein Zwischenglied zwischen ihm und der realen Welt ist. Prototypen des »Teletaktors« sind zum Beispiel das astronomische Fernrohr und der Fernsehapparat. Das sind allerdings überaus unvollkommene Prototypen. Die Teletaxie macht es möglich, den Menschen an einen beliebig gewählten Ausschnitt der Realität derart »anzuschließen«, daß er sie so erlebt, als befände er sich tatsächlich in ihr. Technisch läßt sich das Problem auf verschiedene Weise lösen. Man kann beispielsweise ein exaktes Modell des Menschen konstruieren, dessen sämtliche Rezeptoren (für optische, akustische, olfaktorische, Gleichgewichts- und Tastempfindungen etc.) an die sensorischen Bahnen des Originals angeschlossen werden, und dasselbe macht man mit all seinen motorischen Nerven. Der so »afferent angeschlossene« Doppelgänger oder »Fernling« kann sich beispielsweise im Krater eines Vulkans, auf dem Gipfel des Mount Everest oder im erdnahen Weltraum aufhalten bzw. in London eine gesellige Konversation treiben, während der ihn steuernde Mensch sich die ganze Zeit in Warschau befindet. Die endliche Geschwindigkeit der Nachrichtensignale — im vorliegenden Falle der Funksignale — schließt es allerdings aus, daß sich das »alter ego« allzu weit von dem ihn steuernden Menschen entfernt. Schon wenn es sich auf den Mond begibt, tritt eine deutliche Verzögerung der Reaktionen ein, weil das Signal rund eine Sekunde benötigt, um unseren Satelliten zu erreichen und für den Rückweg dieselbe Zeit braucht. Praktisch wird man deshalb eine Distanz von einigen tausend, im Höchstfall einigen zehntausend Kilometern zwischen dem »Fernling« und der ihn steuernden Person nicht überschreiten dürfen. Die Illusion, sich auf dem Mond oder in dem Krater zu befinden, wird vollkommen sein, nur werden die potentiellen Gefahren ausgeschaltet sein, da eine Vernichtung des »Fernlings« infolge einer Katastrophe, etwa eines Steinschlags, beim angeschlossenen Menschen lediglich ein plötzliches Abreißen der Vision bewirkt, seine Gesundheit aber keineswegs beeinträchtigt. Sicher wird ein solches Kommunikationssystem bei der Erforschung der Himmelskörper von großem Nutzen sein, und überhaupt kann es sich in zahlreichen Situationen, die nichts mit Unterhaltung zu tun haben, als brauchbar erweisen. Es ist natürlich nicht nötig, daß zwischen dem Fernling und der ihn steuernden Person äußere Ähnlichkeit besteht, ja, bei der Erforschung des Kosmos wäre sie sogar überflüssig; lediglich in besonderen Fällen der »teletaktischen Touristik« könnte sie — im Sinne einer vollkommenen Illusion — angebracht sein. Anderenfalls würde der Mensch zwar die bleichen, sonnenversengten Mondgebirge vor sich sehen und unter seinen Füßen das Mondgestein spüren, doch wenn er sich die vor Augen hielte, würde er natürlich die Vordergliedmaßen des Fernlings erblicken, und im Spiegel würde er nicht sich selbst, den Menschen, erkennen, sondern seinen Automaten, seine Maschine, und das könnte bei vielen einen Schock auslösen, denn man hätte sich auf diese Weise nicht nur in eine andere Situation versetzt, sondern gleichsam außer dem vorherigen Aufenthaltsort scheinbar auch noch den eigenen Körper eingebüßt.
       Von der Teletaxie ist es nur noch ein kurzer Schritt zur
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