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Die Entdeckung der Virtualität.

Die Entdeckung der Virtualität.

Titel: Die Entdeckung der Virtualität.
Autoren: Stanislaw Lem , Bernd Flessner
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Phantoplikation, die nichts anderes bedeutet, als daß die Nervenbahnen eines Menschen an die entsprechenden Bahnen eines anderen angeschlossen werden. Durch diese Methode können in einem entsprechend eingerichteten »Phantoplikaten« tausend Personen gleichzeitig am Marathonlauf »teilnehmen«, mit den Augen des Läufers sehen, seine Bewegungen als eigene empfinden, kurz, ihre Empfindungen weitgehend mit denen des Läufers identifizieren. Die Bezeichnung geht darauf zurück, daß an einer solchen Übertragung gleichzeitig eine beliebige Personenzahl (Phantoplikation) teilnehmen kann. Allerdings wird bei dieser Methode die Information nur einseitig übertragen, weil nicht alle, die an den Läufer »angeschlossen« sind, gleichzeitig seine Bewegungen steuern können. Das Prinzip dieses Verfahrens ist bereits bekannt. Nach derselben Methode übermitteln entsprechende Mikrosender, die an verschiedenen Stellen am Körper der Astronauten angebracht sind, den Wissenschaftlern auf der Erde Informationen darüber, was mit dem Herzen der Astronauten, ihrem Blut usw. los ist. Mit verwandten Problemen (Nachahmung der Wirkungsweise bestimmter Rezeptoren von lebenden Organismen mit technischen Mitteln, direkte Anschließung des Gehirns oder der Nerven an ausführende Apparaturen unter Umgehung bestimmter normaler Zwischenglieder, etwa der Hände) befaßt sich ein neuer Zweig der Wissenschaft, die Bionik. Wir sagten, ein Umsteigen von einer Persönlichkeit in die andere sei unmöglich, mit zwei Einschränkungen. Damit waren natürlich nicht die Teletaxie und die Phantoplikation gemeint, die lediglich verschiedene Verfahren darstellen, ein Gehirn an bestimmte »Informationsspeicher« »anzuschließen«. Uns interessiert dagegen vor allem die Möglichkeit, ein Gehirn an ein anderes anzuschließen, und was sich daraus eventuell für Konsequenzen ergeben: ein »Überspringen« von einem Bewußtsein ins andere, eine »Verschmelzung« von zwei oder mehr Bewußtseinen und schließlich die Frage einer solchen Metamorphose des individuellen Bewußtseins, die nicht gleichbedeutend wäre mit der Vernichtung der individuellen Existenz. Wenn wir der Meinung sind, daß Herr Smith, der Angestellte der Landesbank, den wir von Kindheit an kennen und der bestimmte Eigenarten besitzt (die bestimmten dynamischen Merkmalen des Neuronennetzes seines Gehirns entsprechen), und eine ihm vollkommen gleichende Person, die von anderer Wesensart ist und andere Interessen und Begabungen zeigt, aber erklärt, sie sei jener Herr Smith, dem bei einer Operation ein »Verstärker« für gewisse schwach entwickelte geistige Merkmale »ins Gehirn eingebaut« worden sei - wenn wir der Meinung sind, daß diese zwei Personen zwei verschiedene Menschen sind, dann entfällt das ganze Problem, dann ist die Reinkarnation oder das »psychische Umsteigen« unmöglich, und der neue Herr Smith ist lediglich der Meinung, er sei der alte Herr Smith, jener Bankangestellte, doch das scheint ihm nur so. Wenn wir ihn aber ausfragen und uns davon überzeugen, daß er sich an das vorige Leben einschließlich der Kindheit ganz genau erinnert, daß er sich gleichfalls erinnert, wie er beschlossen hat, sich dem Eingriff zu unterziehen, und daß er schließlich seine neuen psychischen Merkmale mit seinen früheren (abhanden gekommenen) vergleichen kann, und wenn wir daraufhin zu der Ansicht kommen, es handele sich um dieselbe Person, dann heißt das, daß unser Problem durchaus real ist. Das ist unsere erste Einschränkung: Ob wir die beiden Herren Smith (das heißt den Herrn Smith von vor der Operation, vom Zeitpunkt T1, und den Herrn Smith vom Zeitpunkt T2, nach der Operation) als identisch anerkennen oder nicht, hängt von den Kriterien ab, auf die wir uns vorher geeinigt haben.
       Aber die Kybernetik verfügt leider über schlechthin unbegrenzte Möglichkeiten. Es tritt eine Person auf, in der wir unseren Bekannten, Herrn Smith, wiedererkennen. Wir unterhalten uns lange mit ihm und sind danach sicher, daß es sich um unseren alten, absolut unveränderten Bekannten handelt, der sich an uns und an sein Leben ganz genau erinnert. Er ist genauso, wie er immer war. Nun tritt ein dämonischer Kybernetiker auf und erklärt uns, der vermeintliche Herr Smith sei »in Wirklichkeit« ein ganz anderer Mensch, den er in Smith »umgeändert« habe — durch eine entsprechende Umgestaltung seines Körpers und seines Gehirns, welch letzteres er mit der Gesamtsumme der Erinnerungen von Herrn Smith
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