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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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aber unter Berufung auf den Unfall hatte er seine Arbeit an einen Kollegen delegieren können.
    Genau wie vor drei Monaten, an Onnos Hochzeit, herrschte auch hier Hochbetrieb – aber diesmal, um das einzuäschern, wofür die Rathäuser ununterbrochen die Grundlage schufen.  Dieselben schwarzen Limousinen fuhren, jetzt ohne weiße Schleifen an den Rückspiegeln, zum Tor hinein und heraus und wurden nun auch nicht von Konfetti und Gelächter begleitet, sondern von einer bleiernen Stille, die nur erfüllt war vom leisen Knirschen der Muscheln unter den Reifen der Wagen. Auch hier standen überall kleine Gruppen, aber er sah niemanden, den er kannte. Er atmete tief ein: Seeluft. Am Tor fragte ihn ein Mann in einem schwarzen Anzug und mit dem Hut in der Hand, für welchen Verstorbenen er käme; berufsbedingt sprach aus seinem Gesicht eine derart maßlose, universelle Trauer über die Sterblichkeit des Menschen, also auch von Sokrates, daß niemand ihm mit der eigenen, individuellen Trauer das Wasser reichen konnte. Die Feier für Herrn Brons sei in der kleinen Aula. Der Trauerzug sei noch nicht eingetroffen.
    Er ging auf einem Waldweg an der Urnenhalle vorbei, die Urnen standen in den Nischen der gemauerten Wände wie Medizintöpfe in einer Apotheke des achtzehnten Jahrhunderts, und zugleich machte alles einen fernöstlichen Eindruck auf ihn und kam ihm merkwürdig chinesisch vor, wie etwas aus einer seit Jahrtausenden versunkenen Kultur. Er selbst würde sich niemals einäschern lassen, es war viel zu endgültig.
    Mit Onno war er sich einig, daß man sich entscheiden mußte, ob man nach dem Tode in seinen Vater oder in seine Mutter zurückkehren wollte. Wollte man zum Vater, mußte man ins Feuer, denn das war der Geist, die Mutter dagegen war die Erde, der Körper. Seit diesem Gespräch stand für Onno fest, sich einäschern zu lassen. Die Sonne stand tief über den Baumkronen, und als das Krematorium vor ihm auftauchte, sah er über dem niedrigen, flachen Dach vor der dunklen Silhouette des Waldes den dünnen, blaßblauen Rauchfaden, wie von einer Zigarette. Er beschloß, erst einmal um das Gebäude herumzugehen.
    Auf der Rückseite stockte er. Nicht wegen des Müllcontainers, der dort stand, Müll fiel überall an, auch nicht wegen der Fahrer, die sich neben ihren Leichenwagen lachend unterhielten, jeder hatte seinen Beruf, sondern wegen des viereckigen Schornsteins, den er von Birkenau her kannte. Es kam jetzt kein Rauch heraus, nur flirrende Hitze. Am Fuße des Schornsteins dröhnten aus einem Gitter Ventilatoren. Er sah nicht und sah zugleich doch, wie die Heizer unter der Erde Sarg für Sarg aus den heruntergefahrenen Aufzügen zogen, sie im Neonlicht über den gefliesten Boden fuhren und mitsamt den Blumen in die weiße Hölle schoben, zwar nicht Tausende am Tag, sondern nur zwei oder drei in der Stunde, aber es war dennoch dasselbe.
    Im Wartezimmer der kleinen Halle hatte sich bereits eine kleine Gesellschaft eingefunden. Onnos Eltern waren da und der Mann seiner jüngsten Schwester, Karel, der Rotterdamer Gehirnchirurg. Die anderen – Freunde und Bekannte von Brons, Freidenker, Anarchisten und vielleicht sogar Anonyme Alkoholiker – hatte er vorher nie gesehen. Er konnte sich nur vage an Adas Vater erinnern, aber irgendwie hatten sie Ähnlichkeit mit ihm: ein bißchen schlampig, wie Sozialdemokraten, aber ohne deren Spießigkeit, und mit einer gewissen intellektuellen Klarheit im Blick. Sie waren Bücherleser, auch wenn das vielleicht Bücher waren, die nur noch sie lasen. Schüchtern sahen sie ab und zu zum reformierten Staatsminister hinüber, der hauptsächlich ein einziges Buch gelesen hatte.
    Auch Bruno war da, er hatte die Todesanzeige gelesen und fragte Max, wie Ada auf den Tod ihres Vaters reagiert habe.
    »Gar nicht«, sagte Max.
    Nachdem er kurz geschildert hatte, was geschehen war, fragte Bruno sichtlich erschrocken, ob sie immer noch ohne Bewußtsein sei, aber Max konnte ihm die Frage nicht beantworten. Er entschuldigte sich und begrüßte Onnos Familie.
    Auch für sie war es selbstverständlich, nicht von Brons zu sprechen, sondern nur von Ada. Zögernd bestätigte der Gehirnchirurg, daß auch ein länger anhaltendes Koma nicht unbedingt auf eine zerebrale Zerstörung hindeuten müsse, aber er sehe sie dennoch lieber heute als morgen wieder zu sich kommen. Ihr Stammhirn, wo sich das Atemzentrum befinde, sei auf jeden Fall nicht geschädigt.
    »Das arme Kind«, sagte Onnos Mutter. »Und das alles

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