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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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erinnerten an das, was geschehen war. Seine Kleider hingen über dem Stuhl: alles sauber und gebügelt, sogar seine Schuhe waren geputzt. Im Badezimmer stand das Rasierzeug von Brons noch auf dem Waschtisch, aber er rührte es nicht an. Als er ins Wohnzimmer hinunterging, telefonierte Sophia gerade. Ihr Haar war wieder hochgesteckt; sie nickte ihm zu und zeigte auf die Kaffeekanne, die auf dem Tisch stand. Das Gespräch drehte sich um Trauerkarten und die Beerdigung. 
    Sie hatte sich ihm gegenüber nichts anmerken lassen, in ihren Augen lag wieder der Blick der Äbtissin, als sei nichts passiert. Wenn das die Haltung war, für die sie sich entschieden hatte, machte sie es ihm wirklich leicht. Oder war tatsächlich nichts geschehen? Hatte er vielleicht doch geträumt? Verstohlen sah er zu ihr hinüber. War das die Frau, die heute nacht die Zunge so weit herausgestreckt hatte? Erst jetzt fiel ihm auf, daß sie eine gute Figur hatte, voller als die von Ada, aber überall proportioniert, nirgends verschwimmende Konturen, und fast graziös gingen ihre kräftigen Waden in schmale Knöchel über. 
    »Das war Dol«, sagte sie und legte auf, »Onnos Schwester. Sie hat mir alles abgenommen. Gut geschlafen?«
    »Ausgezeichnet. Und danke, daß Sie meine dreckigen Klamotten wieder hergerichtet haben.«
    Auch Onno hatte schon angerufen. Adas Zustand sei noch immer unverändert, im Laufe des Vormittags werde er mit ihr im Krankenwagen nach Amsterdam kommen. Sie wolle heute nachmittag zu ihr fahren. 
    »Haben Sie ihm gesagt, daß ich hier übernachtet habe?«
    »Ja, das stimmt doch auch. Möchtest du ein Spiegelei?«
    »Gerne, danke.«
    Als sie in der Küche verschwunden war, dachte er: Diese Frau ist in zwei Teile gespalten. Eine Tag-Sophia und eine Nacht-Sophia, die nichts miteinander gemein haben, ein gefühlskaltes Wesen und eines, das überfließt vor Emotionen. Er erinnerte sich, wie Ada manchmal über sie gesprochen hatte: wie über jemand Unangenehmen. Aber wie gut hatte sie ihre Mutter eigentlich gekannt? Das Phänomen faszinierte ihn, aber ihm war auch klar, daß er mit keinem Wort auf das anspielen durfte, was heute nacht passiert war. 
    Er überlegte, was jetzt alles erledigt werden mußte. Er mußte Onno anrufen und dann zur Sternwarte fahren, um die Kollegen darauf vorzubereiten, daß das Datenmaterial einer ganzen Woche möglicherweise zerstört war; er mußte mit Dwingeloo telefonieren, damit Floris sich mit der Polizei in Verbindung setzte, und er mußte seine Versicherung und seine Werkstatt informieren. Das Auto hatte zwar keinen Totalschaden, der Motor war wahrscheinlich in Ordnung, aber er wollte das Ding nicht mehr sehen; sie sollten den Wagen reparieren und verkaufen. Er nahm seinen Kalender und wollte sich alles notieren, aber die Spitze des Bleistifts war abgebrochen. Während er ihn über dem Papierkorb anspitzte, klingelte die Glocke der Ladentür. 
    »Siehst du kurz nach, wer da ist?« rief Sophia.
     An der Kasse stand ein langer, magerer Mann mit einem kurzen, schwarzen Bart, der seinen Blick merkwürdig stechend in Max’ Augen bohrte. 
    »Haben Sie etwas über Metempsychose?«
    Metempsychose – das klang nach einer Geisteskrankheit.  Suchend sah Max sich um. »Vielleicht im Regal mit Psychiatrie –.«
    »Seelenwanderung«, sagte der Mann und wandte seinen Blick nicht von ihm ab. 
    Es lag Max auf den Lippen zu sagen, sie hätten über diesen Wandersport nichts vorrätig, aber da war Sophia schon da. 
    »Wir haben geschlossen. Wegen Trauerfall geschlossen.« Und zu Max: »Dein Ei ist fertig.«

28
Die Aussegnung
    Am Abend desselben Tages, auf dem Weg zu Keyzer, wo er sich um sieben mit Max verabredet hatte, sah Onno erschrokken zum Concertgebouw: er hatte vergessen, das Orchester zu benachrichtigen! In gut einer Stunde würde ein Abonnementskonzert stattfinden. Während er den Portier am Künstlereingang fragte, ob jemand von der Verwaltung zu sprechen sei, kam Marijke mit ihrer Klarinette vorbei. Als er ihr erzählte, was passiert war, wich alle Farbe aus ihrem Gesicht, und sie klemmte mit beiden Armen das Futteral an die Brust wie ein Kind, das geschützt werden mußte. Sie würde es ausrichten und Ada morgen besuchen. 
    »Das kannst du genausogut sein lassen«, sagte Onno. »Im Augenblick nimmt sie noch nichts von dem wahr, was um sie herum geschieht.«
    »Woher willst du das wissen? Und ich möchte es trotzdem tun, auch für mich.«
    Er gab ihr die Zimmernummer, drückte ihr einen Kuß

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