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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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auch noch in freudiger Erwartung. Schreit das nicht zum Himmel?«
    »Das sagt man nicht, To«, sagte Quist mit steinerner Überlegenheit. »Gottes Wege sind unergründlich.«
    »Ja, natürlich, aber-.«
    »Im Angesicht der Vorsehung gibt es kein aber.«
    Eingeschüchtert schwieg sie.
    »Es war auch eher, als hätte der Teufel seine Hand im Spiel«, sagte Max. »Wir mußten vor einem umgestürzten Baum anhalten, und genau an derselben Stelle stürzte der zweite Baum um.«
    Quist warf ihm einen kurzen Blick zu, den er nicht ganz deuten konnte: einerseits sprach daraus, daß der Teufel nur etwas für Götzendiener sei oder für Katholiken, was praktisch auf dasselbe hinauslief, andererseits leuchtete etwas wie Sympathie darin, weil Max seiner Frau im Dilemma der Theodizee manichäisch zu Hilfe gekommen war. Vielleicht, dachte Max, war es tatsächlich so, daß man an Gott nur glauben konnte, wenn man auch an den Teufel glaubte. Wenn man nur an Gott glaubte, gab es sofort Probleme. Woher kamen denn all die Gaskammern? Warum mußte der Baum gerade dort fallen, wo er gefallen war? Was machte Gottes Schöpfung so mangelhaft, daß ein Messias nötig wurde?
    »Und Gott sah, daß es gut war« – aber es war überhaupt nicht gut. Es taugte nichts.
    Die Türen der Halle wurden von einem Bediensteten langsam geöffnet, der trotz seines jugendlichen Alters schon völlig gebrochen war vom Schmerz. Der blumenbedeckte Sarg stand aufgebockt da wie ein Geschoß, das gleich abgefeuert werden würde. In der ersten Reihe sah er Onno, seine Schwester Dol und Sophia mit einer alten Dame, die ihre Mutter sein mußte; die anderen waren Verwandte von Brons. Dol war auf die Idee gekommen, den zweiten Teil des Cellokonzerts von Dvorak spielen zu lassen, was Ada noch gegenwärtiger machte, als wenn sie tatsächlich hiergewesen wäre. Es war Max, als wäre die Musik das einzige, das sich im Saal bewegte. Er stierte eine Weile auf den weißen Hinterkopf von Adas Großmutter, die das Haar zu einem kleinen Knoten aufgesteckt trug. War sie vielleicht die Urgroßmutter seines Kindes?
    Als die Musik langsam leiser wurde, machte der gebrochene junge Friedhofsangestellte einen Schritt nach vorne und sagte, wieder mit dem Hut in der Hand:
    »Das Wort hat Herr A. L. C. Akkersdijk.«
    Ein Mann mit grauen Schläfen kam gemessenen Schritts nach vorn, zog Papiere aus der Brusttasche und stellte sich hinter das Pult. Er entfaltete sie, sah grimmig ins Publikum und sagte mit feierlicher Bestimmtheit:
    »Oswald Brons ist tot.«
    Hier sprach jemand, der keinen Zweifel kannte. Während er Brons’ Verdienste für die Sache des freien Gedankens schilderte, den Sieg der Vernunft über jeglichen Obskurantismus, des wissenschaftlichen Atheismus über den Dogmatismus der Kirchen aller Glaubensrichtungen, insbesondere im Bezirk Leiden, dem Oswald all seine Kräfte gewidmet hatte, sah Max an Onnos Hinterkopf, daß er an seinen Vater dachte, der jetzt auch das noch über sich ergehen lassen mußte. Er sah sich um. Die helle Halle mit den Klinkerwänden war so sauber und rein wie ein Strahl kaltes Wasser aus dem Hahn – die funktionale Architektur des modernen Todes. Aber war die wahre Architektur der Trauer nicht immer noch ein dunkler Kirchenraum, mit Säulen und Tafelbildern und düsteren Nischen, in denen Kerzen flackerten im Angesicht dämmernder Altäre, Götterbilder und heiligem Werkzeug? Oder war das hier emotional gesehen nicht doch funktionaler? Offenbar hatten die vegetarischen Ikonoklasten des Bauhauses und von De Stijl diese Fragen allesamt vergessen.
    Am Schluß seiner Rede zitierte Akkersdijk einen bitteren Aphorismus Multatulis, wobei seine Stimme sich veränderte wie die eines Pfarrers, der einen Bibelvers vorlas. Dann faltete er das Manuskript zusammen, sah – im Widerspruch zu seiner Weltanschauung – zum Sarg und sagte barsch: »Auf Wiedersehen, Oswald.«
    Die Musik nahm wieder vom Raum Besitz, und Max fragte sich, worauf man jetzt noch wartete, plötzlich sah er, daß der Sarg schon fast im Boden verschwunden war. Auch die Blumen verschwanden, und langsam schlossen sich zwei Bodentüren. Jetzt machten sie sich im Keller an die Arbeit, schwitzende Männer mit Bierbäuchen und einer Zigarette zwischen den Lippen; am liebsten wäre er hinausgegangen, um zu sehen, wie nun Rauch aus dem Schornstein kam. Er dachte an Ada. Während der Körper ihres Vaters verbrannt wurde, lag sie im Bett und wußte von nichts. Oder gab es zwischen einer Tochter und ihrem

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