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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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durch ihren Namen geprägt, vielleicht hatte sie sich auch danach modelliert, auf jeden Fall sah sie tatsächlich aus wie eine mittelalterliche Mystica. Ihr Gesicht hatte den dunklen Teint, den die spanischen Truppen vor vierhundert Jahren in Brabant hinterlassen hatten. Im Gesicht standen zwei zu große braune Augen, die vor ekstatischer Einsicht zu leuchten schienen.
    »Wir haben keine Villa in Kralingen«, sagte Hans, »und auch keinen Garten mit Pool, dafür aber eine komfortable Wohnung in Kopenhagen. Das heißt, solange diese Dienstverpflichtung noch dauert. Was unser nächster Posten sein wird, weiß ich natürlich nicht. Ich könnte mir vorstellen, daß das ein Problem für dich ist. Es wird jedenfalls immer weiter von Amsterdam entfernt sein als Groningen.«
    Hans war in allem das Gegenteil von Jan-Kees. Er hatte seidiges, ordentlich gescheiteltes blondes Haar und hellblaue Augen, war sechs- oder siebenundzwanzig Jahre alt und von Kopf bis Fuß nach den Uniformregeln des Auswärtigen Amtes gekleidet: Er trug einen Anzug im richtigen Grauton, nicht zu dunkel, aber vor allem nicht zu hell, ein blaugestreiftes Hemd und eine dunkelblaue Krawatte mit dezenten weißen Tupfen, und an den Füßen schwarze geflochtene Schuhe. Aber er machte einen sympathischen, intelligenten, wenn auch etwas farblosen Eindruck, und er hatte sofort das grundsätzliche Problem angesprochen: seine Nomadenexistenz.
    In Gedanken versunken sah Onno in die Runde. Trees wandte den Kopf zu Coen, der in Zeitlupe sein Handgelenk aus dem Hemdärmel schob und ohne sich zu bewegen die Augen niederschlug, um zu sehen, wie spät es war. Seine Mutter seufzte tief und sah mit leichtem Kopfschütteln zu Sophia, die ungerührt den Zeigefinger durch eine Schleife in ihrer Blutkorallenkette hin und her gleiten ließ. Die beiden Paare, die ein Angebot gemacht hatten, schienen jeden Augenkontakt zu vermeiden, wie Bewerber für dieselbe Stelle.
    Plötzlich fuhr Onno hoch.
    »Ich muß mich doch jetzt nicht auf der Stelle entscheiden, hoffe ich?«
    Sofort redeten alle durcheinander.
    »Kommt gar nicht in Frage.«
    »Ach woher.«
    »Natürlich nicht.«
    »Schon allein die Vorstellung!«
    »Überlege es dir in Ruhe«, sagte Dol. »Du hast ja mindestens noch zwei Monate Zeit.«
    »Im Grunde schon«, nickte Karel.
    Plötzlich war Onno der Gunst seiner Verwandtschaft ausgeliefert, und es kostete ihn Mühe, Worte des Dankes zu finden. Vor allem die peinliche Konkurrenzsituation, in die sich die Familien von Hans und Jan-Kees für ihn begeben hatten, machte ihm zu schaffen. Angenommen, er hätte wie Max keine Verwandtschaft gehabt – was hätte er dann tun sollen?
    »Ich war oft unwirsch zu euch«, zwang er sich zu sagen, »dafür möchte ich mich entschuldigen.«
    Er meinte es ernst, und zugleich widerte es ihn an, als er sich so reden hörte. Köpfe wurden geschüttelt und wegwerfende Gesten gemacht, und das Gesicht seiner Mutter begann zu strahlen, und als Besiegelung des Kniefalls sagte sein Vater: »Gut. Laßt uns beten.«
    Es wurde still, Zigarren wurden weggelegt, Köpfe neigten sich, Hände wurden gefaltet. Auch Onno ertappte sich dabei, daß er seinen Oberkörper leicht nach vorne beugte; nur Sophia änderte ihre Haltung nicht, aber sie hörte auf, mit ihrer Kette zu spielen. In die Stille hinein öffnete Coba die Tür, um noch einmal Tee nachzuschenken, errötete heftig und schloß sie rasch wieder.
    Mit gesenktem Blick sagte Quist:
    »Lieber Gott, himmlischer Vater, in unserem Elend siehst Du uns hier vor Deinem Angesicht versammelt. Dieses Leben – das doch nichts anderes ist als ein fortwährender Tod – ist für uns noch düsterer geworden nach Deinem unergründlichen Ratschluß. Aber wir wissen, daß Du alles vermagst und daß keiner Deiner Gedanken aus dieser Welt verschwindet. Gib uns Deinen Segen und erleichtere unsere Herzen. Im tiefen Glauben an Deine unendliche Barmherzigkeit bitten wir Dich, allmächtiger und ewiger Gott, unserem verlorenen Sohn, der wiedergefunden ist, Kraft und Weisheit zu schenken. Amen.«

30
Das Schafott
    Max wußte von der Zusammenkunft und wartete unruhig den Bericht ab. Am liebsten hätte er Onno und Sophia sofort angerufen, aber es schien ihm nicht ratsam, allzu große Neugier zu zeigen. Am nächsten Tag rief Onno ihn in Leiden an und meldete sich für den Abend an.
    Während er sich sonst immer gleich in den grünen Sessel fallen ließ, ging er nun ununterbrochen in Max’ Zimmer auf und ab und erzählte, wie das

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