Die Entdeckung des Himmels
den festeren, feuchten Sand, den die Flut zurückgelassen hatte, blieb stehen und sah auf den dunklen Horizont, über den der Lichtkegel des Leuchtfeuers alle paar Sekunden zugleich langsam und doch schnell hinwegstrich. Mit gebeugtem Kopf ging er an der Muschellinie entlang in Richtung Süden.
Der Kaiserschnitt! Es war klar: Er mußte sich aufopfern.
Er mußte Adas Kind aufziehen – zusammen mit Sophia. Nur wenn er das tat, würde er dem, was passiert war, wirklich etwas gegenüberstellen. Sollte sich, Gott bewahre, in irgendeiner Weise zeigen, daß das Kind nicht von Onno war, sondern von ihm, dann wäre das Elend zwar grenzenlos und Onno würde ausfallen, aber zugleich auch verstehen, was er, Max, getan hatte: nämlich, das Kind in einem Augenblick zu sich zu nehmen, als er noch nicht wußte, wer der Vater war; er wäre das Risiko eingegangen, sein Leben nach einem Kind zu richten, das nicht seines war. Sollte sich herausstellen, daß es wirklich nicht von ihm war, so würde Onno dennoch nie erfahren, weshalb er sich so entschieden hatte. Denn dann wäre es immer noch nicht so, als wäre nichts geschehen: der Verrat der Freundschaft konnte nie wiedergutgemacht werden, die Lüge würde bis in alle Ewigkeit zwischen ihnen bleiben, obwohl nur er selbst davon wissen würde – mit der kleinen Beruhigung, auf jeden Fall alles getan zu haben, was in seiner Macht stand.
Den Gedanken, die künstliche Entbindung könnte vielleicht mißlingen und damit wäre alles erledigt, verdrängte er, aber er ertappte sich plötzlich dabei, daß das jetzt unter Umständen eine Enttäuschung für ihn wäre.
Ununterbrochen schwenkte das Kreuz des Leuchtfeuers über seinen Kopf wie Hubschrauberflügel, die die Erde schwebend im All hielten. Noch heute abend, spätestens morgen, mußte er Sophia seinen Vorschlag unterbreiten, und wenn sie einverstanden wäre, dann auch Onno. Stimmte auch er zu, so mußte er so rasch wie möglich weg aus Amsterdam und weg von dem Leben, das er dort geführt hatte, seine Wohnung kündigen und nach Drenthe ziehen, irgendwo in der Nähe von Dwingeloo und Westerbork ein Haus für sich und seine bizarre Familie suchen: mit einer Frau, die nicht die Mutter, sondern die Großmutter seines Kindes war, das vielleicht gar nicht sein Kind war. Oder war er vielleicht verrückt geworden? Würde es das durchhalten? Ja, er würde es durchhalten, und er opferte sich auch nicht auf, von »Aufopferung« zu sprechen wäre nur wieder eine neue Lüge, und Sophia würde Bescheid wissen. Es wäre vielmehr die Gelegenheit, seinem dunklen Verhältnis mit ihr eine dauerhafte Form zu geben; so, wie es bisher war, konnte es nicht weitergehen, ohne irgendwann lächerlich zu werden. Was würde sie dazu sagen? Auch ihr Leben war schließlich verpfuscht. Was sollte sie in Leiden mit einer Antiquariats-Buchhandlung, mit der sie sich nicht auskannte und die früher oder später pleite gehen würde? Andererseits: Wenn das Kind fünfzehn sein würde, also in fünfzehn Jahren, wäre sie sechzig, wie sie gesagt hatte, er selbst aber erst fünfzig. Erst? Die Vorstellung erschreckte ihn. War er in fünfzehn Jahren schon fünfzig? Aber dann wäre alles anders, und man würde dann schon weitersehen.
Er dachte an eine Anekdote, die ihm Onno während eines Spaziergangs durch die Stadt erzählt hatte. Anfang des vorigen Jahrhunderts wurde der eher zweitrangige deutsche Bühnenautor Kotzebue, der im Dienst des Zaren stand, von dem nationalistischen Korpsstudenten Sand ermordet; Sand wurde zum Tode verurteilt und von dem Henker Braun geköpft.
Dieser aber bereute anschließend so sehr, einen so hochgestellten Menschen hingerichtet zu haben, daß er aus den Brettern des Schafotts eine Hütte baute, in der die Korpsstudenten dann heimlich zusammenkamen, um Sand zu verehren, die Blutflecke zu küssen und antisemitische Lieder zu singen.
Die Muscheln knirschten unter seinen Schuhen, und eine Art Trunkenheit überkam ihn, nicht vom Wein, sondern von der totalen Veränderung, die plötzlich bevorstand; er fühlte sich wie jemand, der angesichts eines drohenden Krieges von einem Augenblick auf den anderen beschlossen hatte auszuwandern, weit weg: in ein Land, auf das man nicht mit dem ausgestreckten Finger in einer Himmelsrichtung zeigen konnte, sondern nur, indem man auf den Nadir deutete, senkrecht nach unten, auf die andere Seite der Welt, möglichst weit weg, dorthin, wo die Bäume nach unten wuchsen, Mensch und Tier kopfunter an der Erde klebten
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