Die Entdeckung des Himmels
allerdings irritiert, ist die Tatsache, daß Einstein vermutlich auch glücklich war.«
»Und du?«
»Der Symmetrie halber müßte ich also eigentlich sowohl kein Genie als auch unglücklich sein, oder?«
Langsam schüttelte sie den Kopf.
»Du hast dich überhaupt nicht verändert, weißt du das? Wer gibt schon so eine Antwort?«
»Sie haben recht.«
Er überlegte. Es war natürlich Unsinn zu sagen, er sei glücklich, aber bedeutete das auch schon, daß er unglücklich war?
Logisch vielleicht, aber psychologisch? In den letzten Monaten war er vielleicht wirklich unglücklich gewesen, zumindest hoffnungslos verheddert in dem Netz, das er selbst geknüpft hatte. ›Glücklich‹, ›unglücklich‹, das waren nicht die Termini, in denen er über sich nachdachte, das war eher ›was für Mädchen‹, um mit Onno zu sprechen. Aber von dem Augenblick an, in dem er seinen Entschluß gefaßt hatte, war zwar alles beim alten geblieben – nämlich für immer verdorben –, aber plötzlich auch verändert, umgekippt wie bei einem Marathonläufer, der gerade aus seiner tödlichen Ermüdung Kraftschöpfte und vielleicht sogar etwas wie Lust. Vielleicht war er eben deshalb zum Marathonläufer geworden: weil er süchtig war nach dieser Lust an der Erschöpfung.
»Gott weiß, ich bin glücklich, ja.«
Seine Ziehmutter zog die Hände zurück und schlug den Blick nieder.
»Dieser Mistkrieg«, sagte sie.
Die Bemerkung wunderte ihn, aber er ging nicht darauf ein.
Er nahm nun ihre Hände in die seinen.
Sie sah ihn an.
»Wir haben uns so lange nicht mehr gesehen, Max. – Warum bist du heute abend auf einmal gekommen?«
»Weil ich heute abend eine wichtige Entscheidung gefällt habe, Mutter Tonia, die vielleicht mein ganzes weiteres Leben bestimmen wird. Aber Sie dürfen nicht danach fragen, denn vielleicht wird gar nichts daraus. Wenn es soweit ist, werde ich es Sie wissen lassen. Ich weiß nicht – auf einmal wollte ich Sie wiedersehen. Das hätte ich natürlich schon viel früher machen können, ich habe Sie enttäuscht, aber-.«
»Sprich nicht weiter.«
Er schwieg. Auf dem Nebentisch stand ein Schachbrett mit einer abgebrochenen Partie; morgen früh würde sie wahrscheinlich von zwei alten Männern fortgesetzt, die jetzt im Bett lagen und über ihren nächsten Zug nachdachten, ein niederschmetterndes Schachmatt mit Läufer und Dame, die ihre Kraftlinien wie tödliche Strahlen über die 666 Felder zum feindlichen König aussandten. Der Mann im Rollstuhl rührte sich nicht; er hielt den Kopf gesenkt und sah auf seine weißen Hände, die gefaltet in seinem Schoß lagen. Irgendwie sah er aus wie ein rochierter König, der auf das Matt wartete.
Im Türrahmen, unter dem Kruzifix, das auch hier hing, erschien eine junge Frau und sagte, es sei Schlafenszeit. Sie war groß und schlank, Ende Zwanzig; unter kräftigen, dunkel-blonden Augenbrauen sahen Max zwei blaue Augen an, und im selben Augenblick wußte er, daß er nachher mit ihr im Wald verschwinden könnte, wenn er das wollte. Er sah auch, daß sie sofort sah, daß er das wußte, aber er wollte nicht, das war vorbei. Als würde er sie schon Jahre kennen, blinzelte er ihr wie zur Entschuldigung mit beiden Augen zu. Sie errötete leicht und ging zum Rollstuhl.
»Kommen Sie auch, Herr Blits? Es geht jetzt ab in die Federn.«
Max und Mutter Tonia standen auf. »Gehst du kurz mit auf mein Zimmer?« fragte sie. »Ich möchte dir etwas zeigen, aber ich konnte es so schnell nicht finden.«
Als sie am Rollstuhl vorbeigingen und Max einen melancholischen Blick mit der Altenpflegerin wechselte, folgte Herr Blits ihm mit seinem einen verbliebenen Auge und sagte: »Schuft!«
»Nanu, Herr Blits, was ist denn das? Machen wir Mätzchen?«
»Herr Blits hat vollkommen recht«, lachte Max. »Vor Ihnen steht ein rechter Nichtsnutz.«
Sie nahmen den Fahrstuhl, und als sie das kleine Appartement betraten, bekam er einen Schock. Alles, was er sah, kannte er aus ihrem Haus in Amsterdam und später in Santpoort, aber hier war es reduziert auf seine Essenz, ein eingedampfter Extrakt. Rechts die Küche war so groß wie ein Tischtuch und grenzte an ein winziges Wohnzimmer, von dem ein bogenförmiger Durchgang zu einem ebenso bescheidenen Schlafzimmer führte. Auf dem Sofa mit dem unvergeßlich harten, rauhen Bezug aus den zwanziger oder dreißiger Jahren hatte er sein erstes Buch über Sternkunde gelesen, eine Übersetzung von Jeans’ The Mysterious Universe ;
über den verschlissenen
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