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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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und die Steine nach oben fielen.
    Wieder hatte er das Gefühl, als wollte er seine Gedankenkette hinauszögern wie im Bett den Orgasmus. Plötzlich verspürte er das Bedürfnis, seine Ziehmutter zu besuchen. Zehn Jahre lang, bis 1952, hatte er bei ihr und ihrem Mann gelebt; danach hatte er sich als Arbeitsstudent in Leiden ein Zimmer gemietet. Ende der fünfziger Jahre waren sie nach Santpoort umgezogen, wo seine Ziehmutter Kindergärtnerin wurde; sein Ziehvater, ein Geographielehrer, war damals schon ernsthaft erkrankt. Mit der Zeit hatte er die beiden immer seltener besucht; zuerst alle paar Wochen, dann alle paar Monate, später nur noch zu Weihnachten und schließlich nicht einmal mehr das. Jeder Besuch war für ihn eine Rückkehr in den Krieg, und das belastete ihn immer mehr, je länger der Krieg zurücklag. Inzwischen hatte er seit Jahren nichts mehr von sich hören lassen.
    Er schaute angestrengt auf die Uhr, im Licht des Leuchtturms sah er, daß es halb zehn war. Wann legte sie sich schlafen? Sie wohnte etwa dreißig Kilometer von hier, er würde sie zumindest noch anrufen.
    Etwas weiter, am Rand der Dünen, stand das Huis ter Duin, ein großes, hellerleuchtetes Badehotel mit mediterranem Flair, das den Eindruck erweckte, als befände es sich am Boulevard des Anglais in Nizza und nicht in der Nähe eines verschlafenen Dorfes an der kalten Nordsee. Durch den lockeren Sand stapfte er hin, fand auf der Terrasse eine Tür, die nicht abgeschlossen war, und geriet in ein überschwengliches Fest aus Genever, Bier und Karnevalsschlagern. Auf dem Podium saßen als Bauern verkleidete Musikanten mit schwarzseidenen Mützen auf dem Kopf und roten Taschentüchern um dem Hals und spielten gerade das Letzte vom Letzten: eine Polonaise, bei der sich die Gäste unter dem Festschmuck kindisch in einer Schlange mit den Händen auf den Schultern des Vordermannes durch den Saal bewegten. Während er noch ins Licht blinzelte, wurde er schon mit einem Ruck in die singende und tanzende Reihe gezogen, und ehe er es sich versah, war er mittendrin im Festgeschehen. Selten hatte er sich so fehl am Platze gefühlt, aber mit einem nachsichtigen Lächeln ließ er sich mitziehen; wenn er protestiert hätte, wäre er wahrscheinlich an Ort und Stelle geschlachtet und ins siedende Fett geworfen worden, zwischen die Bratwürste. In der Nähe einer Tür tauchte er weg und ging zur Rezeption in die Eingangshalle.
    Schwere Sofas und leinenbezogene Sessel mit großen roten und blauen Blumenmustern riefen in Erinnerung, daß England unmittelbar gegenüber auf der anderen Seite des Wassers lag. In der Telefonzelle wählte er nervös die Nummer in Santpoort.
    »Blok«, sagte eine Männerstimme.
    »Entschuldigen Sie bitte, ist das nicht die Nummer von Frau Hondius?«
    »Die wohnt nicht mehr hier.«
    Sie sei seit einem Jahr in einem Pflegeheim in Bloemendaal, Sancta Maria, Max bekam auch gleich die Nummer. Mit dem Finger in der Scheibe, im Loch über der letzten Zahl, einer 1, hielt er inne. Sie hatte ihn nicht benachrichtigt und, nachdem er nicht am Sterbebett ihres Mannes erschienen war, offenbar abgeschrieben. Er schämte sich auf einmal so darüber, daß er nicht weiter zu wählen wagte – und wußte zugleich, daß er sie nie wieder sehen würde, wenn er mit dem Finger jetzt nicht die letzten neunzig Grad zurücklegte. Mit einem Ruck zog er ihn herunter bis an den Anschlag.
    Der Portier in Bloemendaal verband ihn, und kurz darauf hörte er ihre Stimme.
    »Ja, wer ist da?«
    »Hier Max.«
    Es blieb einen Augenblick still.
    »Max?« fragte sie leise. »Bist du das, wirklich?«
    »Haben Sie schon geschlafen?«
    »Ich schlafe nachts nie. Es ist doch nichts Schlimmes passiert?«
    »Ich bin jetzt in Noordwijk, ich wollte kurz vorbeikommen.
    Geht das?«
    »Jetzt gleich?«
    »Oder kommt es ungelegen?«
    »Natürlich nicht, für dich nie. Ich werde unten im Gesellschaftsraum auf dich warten.«
    »In einer halben Stunde bin ich bei Ihnen, Mutter Tonia.«

    Über die menschenleere Strandpromenade ging er schnell zurück zum Wagen, nahm eine Abkürzung über Haarlem und überlegte, ob er etwas über sein unverzeihliches Wegbleiben sagen sollte, als ihr Mann im Sterben gelegen hatte, aber vielleicht verstand sie auch so, daß er Schwierigkeiten hatte mit dem Sterben von Eltern, auch wenn es die Zieheltern waren.
    Sancta Maria, aus dunklem Backstein im schweren Patronatsstil des holländischen Katholizismus erbaut, lag hinter einem schmiedeeisernen Zaun an

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