Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
Vom Netzwerk:
einer ruhigen Allee am Waldrand. Er parkte den Wagen auf dem gepflasterten Vorplatz, und als er die Eingangstür öffnete, stand er augenblicklich Auge in Auge dem gemarterten Leib des Religionsstifters gegenüber, der in derselben Haltung am Kreuz befestigt war wie Otto Lilienthal an dem Schwebegerät, mit dem er seinen ersten Gleitflug unternommen hatte. Consummatum est , dachte Max, auch der Ingenieur hatte sein Experiment nicht überlebt. Der Portier sah verstört von seiner Zeitung auf, warf einen Blick auf die Uhr und zeigte mit einer Kopfb ewegung auf den Eingang des Gesellschaftsraumes.
    Auf den Wellen der gesellschaftlichen Veränderungen hatte ein moderner Innenarchitekt dort mit grellem Neonlicht und häßlichem Mobiliar aus knallbuntem Kunststoff einen Eindruck des nahenden Fegefeuers vermitteln wollen, und das war ihm perfekt gelungen. Max’ Ziehmutter saß allein an einem Tisch beim Fenster und winkte ihm zu; zum ersten Mal seit seinem Auszug sah er sie ohne seinen Ziehvater. Sonst war nur noch ein massiger Mann von etwa sechzig Jahren im Raum. Er saß in einem Rollstuhl, der so willkürlich quer dastand, als hätte ihm jemand an der Tür einen Stoß versetzt, um ihn irgendwie in den Raum zu expedieren; über dem rechten Auge trug der Mann eine schwarze Augenklappe.
    »Max! So eine Überraschung!« Seine Ziehmutter war aufgestanden; mit Tränen in den Augen küßte sie ihn und hielt ihn auf Armlänge von sich weg, um ihn eingehend zu betrachten. »Du bist männlicher geworden, ein echter internationaler Gentleman.«
    Er mußte über das Kompliment lachen.
    »Und Sie sind noch immer dieselbe, Mutter Tonia.«
    Sie war kleiner geworden und hatte einen runderen Rükken; ihr Gesicht war jetzt noch schärfer gezeichnet als früher, mit der Spur eines feinen Lächelns in den Mundwinkeln.
    Doch sie trug über einem schmalen, dunklen Schatten immer noch die Perücke aus kastanienbraunem Haar, und der Schatten war wie eine geheimnisvolle Schlucht zwischen Haut und Perücke, die ihn als Jungen mehr fasziniert hatte als alle Schluchten in den Büchern von Karl May. Seit er sie kannte, hatte sie Perücken getragen, und er hatte keine Ahnung, welches Geheimnis sich darunter verbarg, aber er war seitdem sicher, immer zu erkennen, ob jemand eine Perücke trug, bis Onno ihm eines Tages erzählt hatte, daß er es doch wohl nur dann sehen könne, wenn er es tatsächlich sehe, und nicht, wenn er es nicht sehe.
    Seine leibliche Mutter hatte Max immer ›Mama‹ genannt.
    Er setzte sich ihr gegenüber, und sie nahm seine Hände in die ihren. Sie streichelte über seine Spateldaumen und sah ihn an.
    »Du hast noch immer so kalte Hände wie früher.«
    »Das ist immer so bei Hitzköpfen.«
    »Erzähl, wie geht es dir?«
    »Gut«, sagte er. »Gut.«
    Gut? Es war ausgeschlossen, ihr zu erzählen, wie durcheinander sein Leben war und wie er es zu ordnen gedachte; er wußte ja selbst nicht, wie es ihm ging, vielleicht war das der Grund, weshalb er jetzt hier war. Wirklich alt war Mutter Tonia noch nicht, knapp siebzig vielleicht – seine richtige Mutter wäre jetzt sechzig –, und sie war dennoch hier, an diesem schrecklichen Ort, hatte die Gedanken nur noch in der Vergangenheit und wartete bereits auf den Tod, während seine Sorgen ausschließlich der Zukunft galten. Er erzählte ihr von seiner Arbeit in Leiden und daß er in absehbarer Zeit vermutlich nach Drenthe ziehe, wo ein neues Teleskop in Betrieb genommen werde.
    »Du nach Drenthe? Max! Ein Lebemann wie du in den Moorkolonien? Du wirst mir doch nicht erzählen wollen, daß du inzwischen geheiratet hast, ohne mir ein Wort davon zu sagen?«
    »Wenn ich heirate, sind Sie meine Trauzeugin«, sagte er, während ihm zugleich durch den Kopf ging, daß er bald vielleicht sogar ein Kind hätte, ohne daß sie es je erfahren würde.
    »Nein, ich widme mich der Wissenschaft. Es ist ein ganz besonderes Teleskop.«
    »Ich sehe es noch vor mir, wie du in deinem Zimmer über die Sternenkarte gebeugt dasaßt. Ich werde das Geheimnis des Weltalls lüften, hast du einmal bei Tisch gesagt.«
    »Wirklich?« Er lächelte gerührt. »Solche Dinge treiben sie einem an der Universität schon aus. Das erste, was sie einem nehmen, ist die Lust an dem Fach, das man studieren will. Die wirklich großen Genies wie Einstein sind alle reine Amateure, und das ist nicht nur in den Naturwissenschaften so.«
    »Es ist besser, glücklich zu sein als ein großes Genie.«
    »Vielleicht. Was einen dabei

Weitere Kostenlose Bücher