Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
Vom Netzwerk:
sondern einfach nur mit der Struktur ihrer Stimmbänder. Sie erzählte, daß sie nach dem Treffen mit Onno mit dem Zug zurückgefahren sei und ihm angeboten habe, sich selbst um das Kind zu kümmern.
    »Ich habe ihm gesagt, daß das schon immer die Rolle der Großmutter gewesen ist. Wenn die Eltern ausgehen, wird die Großmutter angerufen, um auf das Kind aufzupassen.«
    Onno hatte ihm nichts von diesem Gespräch erzählt. Er dachte kurz an seine eigene Mutter, die vielleicht die Großmutter von Adas Kind wäre, oder gewesen wäre.
    »Und was hat Onno dazu gesagt?«
    »Er hat sich nicht weiter geäußert, aber ich habe den Eindruck, daß er das auch nicht für die ideale Lösung hält, und das ist es wohl auch nicht. Ich bin jetzt fast fünfundvierzig, du kannst es dir ja ausrechnen: Wenn das Kind fünfzehn ist, bin ich sechzig. Das würde vielleicht noch gehen, aber trotz all seiner Erneuerungsideen ist Onno dann plötzlich ganz altmodisch: er findet, daß in die Familie ein Mann gehört. Abgesehen davon habe ich das Gefühl, daß er mich nicht sonderlich mag. Trotz allem wird er seine Entscheidung bald treffen müssen.«
    Sie war aufgestanden und räumte den Tisch ab. Obwohl Max genau wußte, daß eine Befruchtung am 8. Oktober nach etwa zehn Mondmonaten zu einer Geburt Anfang Juli 1968 führen mußte, sagte er beiläufig:
    »Ja, ungefähr in zwei Monaten.«
    »Nein«, sagte Sophia. »Vermutlich schon viel früher.«
    »Viel früher?«
    Während sie die Teller in die Spüle stellte, sagte sie, ohne sich umzudrehen:
    »Hast du heute noch nicht mit Onno gesprochen?«
    »Gestern. Ist etwas passiert?«
    »Er rief kurz nach dir an. Ich weiß nicht genau, was los ist, aber Adas Zustand scheint trotz allem doch ein Risiko zu bergen. Der Neurologe sagt, daß ihr EEG kaum noch ein Bild zeigt. Die Ärzte überlegen auf alle Fälle, ob sie das Kind nicht bald mit einem Kaiserschnitt holen sollen. Das wäre ohnehin erforderlich, denn gebären kann sie natürlich nicht mehr. Ich werde gleich morgen hinfahren, und dann müssen wir entscheiden.«
    Max wurde heiß und kalt. Jetzt war sie plötzlich da, die Stunde der Wahrheit. Natürlich hatte er in diesen letzten Monaten immer gewußt, daß der Augenblick unwiderruflich näher rückte; aber ohne daß er sich dessen bewußt war, hatte er dennoch immer das Gefühl gehabt, dieser Moment würde nie kommen – wie bei Zenon, demzufolge immer wieder ein weiterer Teil des Weges zurückgelegt werden mußte: zuerst die Hälfte, dann die erste Hälfte der zweiten Hälfte, dann die erste Hälfte des letzten Viertels –, und auf diese Weise würde immer wieder Zeit übrigbleiben. Aber jetzt war der Sprung plötzlich gemacht.
    »Auch Kaffee?« fragte Sophia, während sie den Wasserkessel füllte.
    Verwirrt stand er auf. Er hatte das vage Gefühl, daß nichts mehr so war wie vorher, daß er bereits eine Entscheidung getroffen hatte.
    »Nein«, sagte er, »danke –.« Er suchte nach Worten. »Ich muß gehen.«
    Sie drehte sich um.
    »Was ist los mit dir?«
    »Ich weiß es nicht – ich muß nachdenken. Bitte, entschuldigen Sie mich, es ist unhöflich, aber –.« Er gab ihr die Hand.
    »Danke für das Essen, ich rufe Sie morgen an. Ich muß jetzt allein sein.«
    »Natürlich. Wie du meinst.«
    Sophia brachte ihn zur Tür, und er stieg in seinen Volkswagen, den er sich gerade gekauft hatte. Ohne Ziel fuhr er los. Er wollte nachdenken, aber er wollte erst nachdenken, wenn niemand mehr zu sehen war. Ununterbrochen hallte eine Verszeile von Rilke in seinem Kopf, die seine Gedanken wie ein Damm zurückhielt:
    Du mußt dein Leben ändern.

    Es war bereits Abend, und auf der Straße nach Amsterdam fuhr er an der Ausfahrt Noordwijk ab. Auf der dunklen Straße durch die Dünen fuhr er zum Leuchtturm, wo er den Wagen parkte.
    Er stellte den Motor ab und stieg aus; der Knall, mit dem er die Wagentür zuschlug, war wie der Punkt hinter einem Satz. Und wie der erste Buchstabe des nächsten Satzes kam das Rauschen der Brandung näher – hörbare Stille, durch die das Licht des Leuchtturms flog wie etwas, das stiller war als still. Es wehte ein kalter Seewind, die Sterne erschienen und verschwanden zwischen schwarzen, schnell vorbeiziehenden Wolken. Er atmete die salzige Luft und ging den Pfad zum Meer hinunter. Als er den Strand erreichte, war ihm danach, Schuhe und Socken auszuziehen, statt dessen stellte er den Kragen auf, vergrub die Hände tief in den Taschen und ging weiter zum Wasser. Er erreichte

Weitere Kostenlose Bücher