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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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das, was auf dem Bild zu sehen war, sondern auch um den Gegenstand an sich, das Originalpapier, die Materie, die im Besitz seines Vaters und seiner Mutter gewesen war und auf der die Moleküle ihrer Hände zurückgeblieben sein mußten.
    Über den Damrak ging er zum Hauptbahnhof, der die Hafenfront wie ein Staudamm abschloß. Die Szenerie wirkte, als wäre die Stadtverwaltung von Venedig auf die Idee gekommen, auf dem Molo hinter den beiden Säulen der Piazzetta einen Bahnhof zu bauen, der die Aussicht auf die Lagune genommen hätte.
    Amsterdam, dachte er, mochte durchaus das Venedig des Nordens sein, Venedig war aber glücklicherweise nicht das Amsterdam des Südens. Seit er ein Auto hatte, war er erst ein einziges Mal am Bahnhof gewesen: als er seine Reise nach Polen unternommen hatte. Wie immer, bevor er in die Bahnhofshalle ging, warf er einen kurzen Blick nach links, auf die schräge Rampe für den Güterverkehr, über die die einhundertzehntausend Juden in die Waggons getrieben worden waren.
    Die riesige, halbrunde Überdachung aus Stahlträgern, die den Rauch und den Dampf der Lokomotiven auffing, war ihm immer wie das Innere eines Zeppelins vorgekommen, aber diesmal erinnerte es ihn an die Rippen eines Wals, der ihn verschluckt hatte. Er spürte, daß er Lampenfieber hatte.
    Im Restaurant mit der dunklen Täfelung, den Holzschnitzereien und bemalten Wänden setzte er sich an einen Tisch am Fenster. Der Bahnhof blockierte zwar das Panorama der weiten Welt, als wollte er die Tage der holländischen Seemacht endgültig besiegeln, bot dafür aber seinerseits eine grandiose Aussicht: Der weitverzweigte, belebte Platz, dessen Kirchen, Hotels und Giebel aus dem siebzehnten Jahrhundert sich im Wasser spiegelten, ließ einen fast obszönen Blick bis tief in die Stadt hinein frei. Während er das Bild betrachtete, überkam ihn dasselbe Gefühl wie am Morgen beim Aufwachen: vielleicht war es schon gar nicht mehr seine Stadt. Abgesehen von seiner wissenschaftlichen Arbeit war alles hier passiert, angefangen von seiner Geburt bis hin zu dem Gespräch, das er gleich führen würde.
    Bei einem Ober mit einer weißen Schürze bis zu den Füßen bestellte er Kaffee und schlug dann seine Zeitung auf. In Paris hatte de Gaulle eine Erklärung abgegeben, daß er als Präsident im Amt bleiben werde, woraufh in in allen französischen Städten erneut Unruhen ausgebrochen waren, bei denen es mehrere Tote und Tausende von Verletzten gegeben hatte. Er las nur die Überschriften und die Leitartikel, aber nicht, weil er sich nicht konzentrieren konnte, sondern weil es ihn immer noch nicht wirklich interessierte. Seit er auf Kuba gewesen war, beschäftigte er sich nur noch mit den persönlichen Problemen, die er dort in die Welt gesetzt hatte, und mit den Radioquellen aus der Vergangenheit des Universums, was dazwischenlag, wie der Krieg in Vietnam und die Revolte in Europa, existierte für ihn immer weniger; es war die Sache von Onno. Er las einen Artikel über die schnelle Entwicklung der Chips , mit denen er noch zu tun bekommen würde, und darein mischte sich der Lärm aus dem Bauch des Wals: das ständige Quietschen der Eingangstür, das schrille Pfeifen der Schaffner und das Dröhnen der einfahrenden Züge, die mit widerwilligem Knirschen zum Stillstand kamen. Aus den Lautsprechern schepperte ab und zu eine unverständliche Stimme.
    »Wartest du schon lange?«
    Sophia sah von oben auf ihn herunter. Er stand auf, begrüßte sie und nahm ihr den Mantel ab, der außen kalt und innen warm war. Als sie sich gegenübersaßen, sagte sie: »Es steht jetzt fest. Spätestens nächste Woche Donnerstag wird das Kind geholt.«
    Er nickte.
    »Haben sie auch gesagt, weshalb schon jetzt?«
    »Mir sagen sie auch nicht alles, vor allem nicht, wenn Onno dabei ist. Aber sie haben wohl lange darüber beraten; sie sagen, daß sie kein Risiko eingehen wollen, aber was das heißen soll, weiß ich auch nicht. Du kannst dir vorstellen, daß in diesem Körper alles mögliche schiefgehen kann. Sie ist durchgelegen und muß alle drei Stunden gewendet, geeist und gefönt werden.«
    Die Art, wie sie von »diesem Körper« sprach, den sie doch selbst hervorgebracht hatte, ließ ihn kurz stutzen. Gewendet.
    Geeist. Gefönt.
    »Aber wird sie eine so schwere Operation denn überleben?«
    Sophia sah auf ihre Hände. »Wer weiß. Wir haben gerade kurz mit dem Chirurgen gesprochen, aber der sagt auch nicht alles, was er weiß. Seiner Meinung nach muß es nicht

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