Die Entdeckung des Himmels
nicht vom Foto.
»Darf ich es behalten?«
»Aber selbstverständlich.«
Es war ihm ein Rätsel: das Bild stammte also aus der Zelle seines Vaters, das heißt, daß er es als eines der wenigen Dinge bei seiner Festnahme mitgenommen hatte – warum? Er hatte die Frau an seinem linken Arm in den Tod gejagt, und das hatte ihn selbst vor ein Exekutionskommando gebracht, ihn, den einzig Sterblichen. Warum dann ein Foto von jemandem, den es nicht gab und der folglich nicht sterben konnte? Gab es sie für ihn also doch? War sie also doch gestorben? Wie erklärlich war der Mensch? Wie erklärlich war er selbst?
31
Das Gesuch
Am nächsten Morgen wachte er in seinem eigenen Bett mit etwas glitzernd Glänzendem in der Erinnerung auf. Er hielt die Augen noch einen Moment geschlossen und sah, daß es Mutter Tonias silberne Schädeldecke war – und für einen kurzen Augenblick öffneten sich wieder die unermeßlichen Hallen seines Traumes mit ihren Gängen und Zimmern, gewichtigen Botschaften und schwindelerregenden Fernsichten, um sich gleich darauf wieder zu verschließen – als würden sie für den abfahrenden Reisenden nicht nur hinter dem Horizont verschwinden, sondern dort dann auch nicht mehr existieren.
Er öffnete die Augen. Alles stand an seinem Platz, lag in dem weichen Licht, das durch die orangefarbenen Vorhänge schien, nichts hatte sich verändert, und zugleich hatte sich alles geändert: Irgendwie hatte das Leben seine Beständigkeit verloren, in der es morgen so sein würde wie heute, und übermorgen so wie morgen. Es war, als wohnte er schon nicht mehr hier, als sei seine Seele bereits abgereist. Zehn Uhr. Da es Samstag war und er heute nicht nach Leiden mußte, hatte er den Wecker nicht gestellt. Er stand auf, zog die Vorhänge auf und wählte Sophias Nummer.
Sie war gerade im Begriff, nach Amsterdam ins Krankenhaus zu fahren.
»Ich habe meinen Mantel schon an.«
»Kommt Onno auch?«
»Ich glaube schon. Warum?«
»Ich muß mit Ihnen reden, aber ohne Onno. Es ist wichtig.«
»Ist etwas passiert? Gestern warst du so plötzlich verschwunden.«
»Ja, es ist etwas passiert, aber das kann ich nicht am Telefon sagen.«
»Wo treffen wir uns?«
Es wäre naheliegend gewesen, sie zu sich nach Hause einzuladen, die Wohnung lag zu Fuß zehn Minuten vom Wilhelmina Gasthuis entfernt, aber er hatte das Gefühl, damit eine Grenze zu überschreiten.
»Im Bahnhofsrestaurant? Das ist vielleicht am einfachsten für Sie.«
»Aber ich kann beim besten Willen nicht genau sagen, wann ich dort sein werde.«
»Das verstehe ich. Lassen Sie sich Zeit, ich werde ab ein Uhr dort sein. Dann können wir gleich eine Kleinigkeit zu Mittag essen.«
»Also bis dann.«
Auf dem Schreibtisch lag das Foto seiner Eltern. Er betrachtete es eine Weile und beschloß, es nachher rahmen zu lassen.
Er ließ die Badewanne ein und versuchte, im heißen Wasser über die Zukunft nachzudenken, aber das hatte wenig Sinn, solange er nicht mit Sophia gesprochen hatte. Es war nicht ausgeschlossen, daß sie ihn erstaunt ansehen und fragen würde, ob er vielleicht nicht ganz bei Trost sei; das bedeutete dann vermutlich auch das Ende ihres verschwiegenen Verhältnisses. Vielleicht würde es aber auch anders laufen, und dann mußte er hinsichtlich seiner Anstellung in Westerbork und einer Unterkunft sofort etwas unternehmen. Obwohl – letztendlich lag alles bei Onno. Er mußte entscheiden. Es ging um seine Frau und das Kind, das auf jeden Fall offiziell sein Kind war; er stand unter dem Druck seiner Verwandtschaft, und es war fraglich, ob er sich mit einer Konstruktion abfinden konnte, die er vielleicht eher unter die Rubrik ›Surrealismus‹ einordnen würde. Max war sich im klaren darüber, daß er auf ebenjene Freundschaft hoffen mußte, die er selbst verraten hatte.
Mit dem Foto in einer zusammengelegten Zeitung ging er gegen halb eins die Treppe hinunter, nahm die Morgenzeitung aus dem Briefk asten und ging Richtung Hauptbahnhof.
Im Schaufenster eines Fotogeschäfts in der Leidsestraat war eine Aufnahme einer Karambolage aus den zwanziger Jahren ausgestellt: ein vergilbter kleiner Schnappschuß von zwei Autos, die komischerweise in einer fast autofreien Welt aufeinandergefahren waren, war durch technische Kunstgriffe reproduziert worden zu einem großen, glänzenden Foto, das gestern aufgenommen zu sein schien. Im Geschäft bot ihm die Verkäuferin an, sein beschädigtes Foto auf dieselbe Weise zu vergrößern; aber es ging ihm nicht nur um
Weitere Kostenlose Bücher