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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Armlehnen lagen zwei undefinierbare Lappen. Darüber hing die Reproduktion von Breughels Fall des Ikarus , von der sich jedes noch so winzige Detail auf dem Grund seiner Seele eingegraben hatte: der unermeßliche Raum des Landes und der See, der pflügende Bauer, sein rotes Hemd, inzwischen in ein mattes Rosa verblaßt, der Hirte, der sich auf seinen Stab lehnt, als wisse er von nichts, und dem Geschehen, um das alles sich dreht, den Rücken zukehrt, und aus den Wellen ragt, gerade noch sichtbar, ein winziges Bein. Auf dem niedrigen Tisch vor der Couch die lila Bonbonniere aus geschliffenem Kristall, an die er nie mehr gedacht hatte, die ihm aber vertrauter war als das meiste, was bei ihm zu Hause stand; in dem kleinen Bücherschrank die bekannten Buchrücken. Lexikon für Jedermann. Ein märchenhaftes Gefühl beschlich ihn: all diese alten Dinge hier plötzlich versammelt, auf diesen wenigen, geheimen Quadratmetern in Bloemen daal. Es gab – aus dem geplünderten Königsgrab seines Elternhauses – noch archaischere Dinge in seinem Leben, an die er sich nur noch vage erinnern konnte, die aber vielleicht auch noch irgendwo existierten, bei den Dieben, die in den Spuren der Mörder gekommen waren, oder bei deren Witwen und Kindern.
    Auf dem Fernsehgerät standen zwei gerahmte Fotos: das seines Ziehvaters und das von ihm selbst. All die Jahre, in denen er nichts von sich hatte hören lassen, hatte dort sein Bild gestanden, und jeden Tag hatte Mutter Tonia es gesehen!
    Hondius, mit Weste und Uhrkette, warf ihm einen strengen Blick zu. Warum bist du nicht gekommen, Max? Beschämt wandte er sich ab. Im Schlafzimmer suchte seine Ziehmutter halb kniend etwas in einer Schachtel, die sie unter dem Bett hervorgezogen hatte. An der Wand das Mahagonischränkchen mit den beiden Türen, deren symmetrische Maserung noch immer wie der angsteinflößende Kopf einer Fledermaus aussah. Darauf, neben dem Nähkorb, ein Kopf: lebensgroß, aus glattem Holz, ohne Gesicht, wie auf einem Gemälde von De Chirico. Es war klar, daß er nicht für seine Augen bestimmt war, nachts setzte sie ihre Perücke darauf, vielleicht hatte er früher im Schrank gestanden, denn er hatte ihn nie gesehen. Aber für wen sollte hier wohl noch etwas verborgen bleiben? Über der Tür wieder Christus am Kreuz, der nur ein Lendentuch trug.
    »Ja, da ist es«, sagte sie. Sie stützte sich auf den Rand des Bettes, kam mühsam hoch und brachte ihm ein großes Foto mit Eselsohren, das an den Rändern hier und da eingerissen war. »Kommt dir das bekannt vor?«
    »Das sind sie!« rief er aus.
    Da standen sie, Arm in Arm: sein Vater und seine Mutter.
    Ungläubig, mit offenem Mund, betrachtete er das Paar. Das vergilbte Schwarzweißfoto, eher ein Porträt, mußte vor seiner Geburt von einem Berufsfotografen aufgenommen worden sein, vielleicht an ihrem Hochzeitstag 1926. In einem tadellosen Maßanzug schaute der Vater in die Linse, die nun ersetzt war durch die Augen seines Sohnes, der sofort die seinen wiedererkannte. Er hielt eine Zigarette in der Rechten, seine Frau zur Linken war achtzehn Jahre alt und sechzehn Jahre jünger als er, dicht neben ihm, eine Hand in der Hüfte, einen dunklen Hut auf dem Kopf, und darunter zwei unbeschreibliche Augen, deren Farbe er nicht erkennen konnte und an die er sich auch nicht erinnerte, kombiniert mit seiner eigenen Nase und seinem Mund. Er tippte auf das Foto.
    »Das sind sie«, sagte er wieder und hatte die Überraschung noch nicht verwunden. »Das ist das erste Mal, daß ich ein Bild von ihnen sehe.«
    »Das habe ich mir gedacht. Du ähnelst beiden.«
    Daß sein Kind auch Ähnlichkeit mit ihm haben würde, wenn er so viel Ähnlichkeit mit seinen Eltern hatte, war ein Gedanke, der jetzt nicht länger als einen Moment in ihm aufkam.
    »Wie kommen Sie dazu?«
    »Das habe ich zwischen den Unterlagen meines Mannes gefunden, als ich aufräumen mußte, bevor ich hierher umgezogen bin. Ich sah sofort, daß das nichts mit meiner Verwandtschaft zu tun haben konnte; das waren nicht solche weltlichen Leute. Das Foto muß unter den Sachen gewesen sein, die uns nach dem Tod deines Vaters zugeschickt worden sind.«
    »Warum hat Ihr Mann mir das nie gezeigt?«
    »Ich weiß es nicht. Vielleicht wollte er dich damals nicht damit konfrontieren und es dir später geben, aber soweit ist es ja dann nicht mehr gekommen –.«
    Sie schwieg. Meinte sie vielleicht, daß Hondius ihm das Foto auf seinem Sterbebett hatte geben wollen? Max wandte den Blick

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