Die Entdeckung des Himmels
aus dem Zimmer und aus dem Schloß haben; weder ein Scherz noch sanfter Druck machten irgendeinen Eindruck auf ihn, und wenn Clara ihn schließlich wegzog, versuchte Arendje ihm schnell noch einen Tritt gegen das Schienbein zu versetzen. Max versuchte es zu vermeiden, allzuoft nach oben zu gehen. Einmal wollte er ein Gespräch über Literatur anknüpfen, aber Proctor antwortete nur mit einigen vagen Bemerkungen und schwieg weiter wie eine Sphinx. Sophia konnte ihn nicht ausstehen, aber Max vermutete, daß ihn offenbar irgendeine Einsicht oder vielleicht auch seine privaten Lebensumstände niederdrückten.
Den besten Kontakt hatten sie zu Theo Kern und dessen Frau, die auf ihrer Etage wohnten. Sobald sie bei ihnen eintraten, war es, als ob sie die Welt verlassen hätten und in eine andere versetzt worden wären. Die Anordnung der Zimmer entsprach spiegelbildlich der ihrer eigenen Wohnung, aber das war auch die einzige Ähnlichkeit. Auf den ersten Blick erinnerte das Chaos an das bei Onno, auf den zweiten jedoch bemerkte Max, daß es eher das Gegenteil davon war und zugleich auch etwas ganz anderes als die abgezirkelte Ordnung seiner eigenen Wohnung. Es war eine ordentliche Unordnung oder eine unordentliche Ordnung, eine dritte Möglichkeit: die künstlerische, nicht beabsichtigte Anordnung unzähliger Dinge, die offenbar zufällig irgendwo achtlos hingestellt und wie bei Onno vergessen worden waren, hier aber ein unbegreifliches, harmonisches Ganzes bildeten wie ein Vogelschwarm, der in einem bestimmten Augenblick vollkommen war in seiner Form, ohne daß ihn irgend jemand komponiert hatte. Vögel gab es übrigens auch. Auf die Räume verteilt standen drei Käfige mit jeweils drei weißen Tauben; zwei standen offen, und die Vögel mit ihren Federschöpfen saßen gurrend und wippend obenauf. Pulte mit Tonmodellen, Böcke mit Zeichnungen und Pflanzen, auf Kaminsimsen, Tischchen und am Boden Drahtskulpturen, Bilder, Tannenzapfen, Zweige in Vasen, Steine, kleine Figuren, Baumstrünke, Muscheln – es gab keinen Unterschied zwischen Schlafzimmer, Wohnzimmer und Küche; irgendwo dazwischen stand plötzlich hier das weiße Himmelbett der Kerns und dort das Kinderbett ihrer Tochter, die zur Zeit in einem Sommerlager war, hier eine Spüle und dort ein Kühlschrank und ein Herd, alles hell, leicht, gewichtslos und wie Seidenpapier durchscheinend aufgenommen in die Einheit des Ganzen.
Und mittendrin in alldem, der Künstler: klein, stämmig, jovial, immer und überall barfuß und um den Kopf einen Strahlenkranz grau werdender Haare, eine Pusteblume. Jedesmal, wenn Max ihn sah, mußte er an einen Zwerg auf einem Pilz denken; seine stämmige Frau Selma, die selten lachte, ihren Mann manchmal ansah wie einen Verrückten und in ihren weiten, langen Kleidern wie ewig schwanger wirkte, ließ jedoch vermuten, daß sich noch etwas ganz anderes hinter diesem Bildhauer verbarg – nach Max’ Überzeugung wurde die verborgene Seite eines Mannes fast immer in dessen Frau sichtbar, und umgekehrt. Es erschien ihm aber vernünftiger, Sophia diese Auffassung vorzuenthalten. »Mutter Erde«, wie er Selma nannte, hatte langes, offenes, dunkelblondes Haar und einen zurückhaltenden Blick, Sophia verstand sich gut mit ihr. Wie die Proctors schienen auch sie zunächst mit der Konstellation aus Max, Sophia und dem Kind, das demnächst erscheinen würde, ein wenig Mühe zu haben, gewöhnten sich aber bald daran. Kern kam ab und zu herüber, um Max’ Fortschritte bei der Renovierung zu begutachten, half ihm dann und wann und lieh ihm Werkzeug, eine Bohrmaschine oder den Tacker. Manchmal holten die Kerns sie auch zum Abendessen, servierten große, wohlschmeckende Gerichte nach südamerikanischen Originalrezepten und ersparten ihnen so die fetten Schnitzel im Landgasthof.
Onno hatte sich auf dem Schloß noch nicht blicken lassen. Jedesmal, bevor Max Sophia am Wilhelmina Gasthuis absetzte, wo sie ihre Tochter und ihren Enkel besuchen wollte, verabredeten sie sich irgendwo in der Stadt, einmal auch in der Kantine der Parteizentrale, die bei Max um die Ecke lag. Ihre Gespräche drehten sich jedoch ausschließlich um praktische Dinge und dauerten nie länger als eine halbe Stunde. Zusammen mit einigen Freunden war Onno auf einem Parteikongreß als Vertreter des Rebellenklubs in die Parteiführung gewählt worden; als Reaktion darauf drohte nun eine Abspaltung des rechten Flügels, um die sie nach Onnos Meinung sämtliche sozialdemokratischen Parteien
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