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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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und bildeten einen Haushalt, aber auch das änderte nichts: es blieb beim »Sie« von seiner Seite, und, anders als zwischen Menschen, die ein Verhältnis miteinander haben, gab es zwischen ihm und der Schwiegermutter seines Freundes keinen Ehekrach. Morgens wurden sie von den Enten geweckt und frühstückten auf dem Balkon, und alle Zeit, die er sich freimachen konnte, verbrachte er mit dem Abbauen der Regale, dem Entfernen der Sperrholzplatten, die in den fünfziger Jahren den alten, handgefertigten Türen ein modernes Aussehen hatten verleihen sollen, mit Streichen, mit Beizen und Weißeln. Nach und nach packte ihn eine so verbissene Arbeitswut, daß er abends kaum aufh ören konnte. Wenn Sophia schon längst mit einem Glas Wein vor dem Fernseher saß und Gardinen nähte, stand er noch immer auf der Leiter und zog den Farbroller über die verspielten Wolkenfelder an der Decke. Er hatte so etwas noch nie gemacht, immer hatten Freundinnen das für ihn erledigt, doch das sofort sichtbare Ergebnis seiner Handwerkereien wirkte auf ihn entspannend; außerdem konnte er dabei in Ruhe über seine Arbeit nachdenken, wenn auch anders als hinter dem Schreibtisch: indirekter, vielleicht auch fruchtbarer, seine besten Ideen hatte er bislang ohnehin immer beim Zähne- oder Schuheputzen oder unter der Dusche gehabt.
    Eine Dusche fehlte übrigens noch, also ließ er sie einbauen, beschaffte, da das Schloß keinen Gasanschluß hatte, einen neuen Durchlauferhitzer, der mit Butangasflaschen betrieben wurde, und ersetzte die alten Ölöfen durch neue. Wenn er Farbe, Pinsel oder Bretter brauchte, fuhr er in seiner Arbeitskleidung zu einem Laden im Dorf Westerbork, das zehn Kilometer südlich der neuen Sternwarte lag und mit dem Lager nur den Namen gemein hatte. In der neuen Sternwarte war er immer noch nicht gewesen; solange die Spiegel nicht fertiggestellt waren, hatte er dort nichts verloren, und er war dabei geblieben, es so lange wie möglich hinauszuschieben.
    Gleich in den ersten Tagen hatten er und Sophia den anderen Bewohnern des Schlosses Höflichkeitsbesuche abgestattet.
    Herr Spier, Ehemann von Frau Spier, war gerade im Begriff zu gehen, als sie anklopften. Er war ebenso klein und sah ebenso peinlich korrekt aus wie seine Frau, trug einen dunkelblauen Nadelstreifen-Dreiteiler, eine Ehrennadel im Knopfloch und in Brusthöhe eine Krawattennadel, etwas rechts von der Mitte, wie sich das gehörte, und hatte das dünne, dunkelblonde Haar sorgfältig frisiert. Höflich sagte er, daß sie sich bestimmt noch oft begegnen würden, und Max lud sie schon jetzt für ein späteres Datum auf ein Glas Champagner ein. Herr Verloren van Themaat, der an der Technischen Universität in Delft Architekturgeschichte lehrte und den anderen Flügel im Erdgeschoß bewohnte, war nur an den Wochenenden da und verbrachte den Sommer zur Zeit in Rom am Niederländischen Kulturhistorischen Institut.
    In der südlichen Hälfte des Dachgeschosses – in einer Reihe ehemaliger Dienstbotenzimmer auf der Nordseite lagerte Mobiliar des Barons – hauste ein englischer Übersetzer, oder vielmehr ein Übersetzer aus dem Englischen: Marius Proctor, ein schwarzhaariger Mann Ende Dreißig, der ziemlich trübsinnig in die Welt schaute. Seine Frau Clara, eine auffallende Erscheinung, die gerne lachte und rotgefärbte Haare und lange Ohrringe trug, sah aus wie eine Wahrsagerin; aus alten Regenschirmen fabrizierte sie gespenstische abstrakte Objekte, die an den schrägen Wänden ihrer Zimmer hingen. Wenn sie Max und Sophia nachmittags zum Tee einlud und ihre Gäste bat, in den modernen Stühlen aus den fünfziger Jahren Platz zu nehmen, verschwand Proctor meist ohne ein Wort durch die dicke gepolsterte Tür in das, was offenbar sein Arbeitszimmer war: das Turmzimmer über dem Raum, in dem eine Wiege und ein Wickeltisch auf Quinten warteten. Für den Lebensunterhalt übersetzte er Romane, seine eigentliche Arbeit jedoch bestand zur Zeit in der Übertragung von Miltons Paradise Lost ; außerdem schrieb er Clara zufolge seit Jahren an einem Buch über eine Entdeckung, die die Fachwelt der Literaturgeschichte in Aufregung versetzen würde. Auf alle Fälle hatte er die eingefallenen Wangen und Schläfen eines Fanatikers, der sich aufzehrte. Sie hatten einen aggressiven, etwa vierjährigen Sohn, der Arendje hieß und jedesmal, wenn er Max sah, wie ein Bock mit bösartig gesenktem Kopf auf ihn zurannte und mit beiden Fäusten gegen seine Oberschenkel boxte, als wollte er ihn

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