Die Entdeckung des Himmels
Europas heftig beneideten, da es in den linken Kreisen bislang ausschließlich linke Abspaltungen gegeben habe, was dazu geführt hatte, daß die Parteien immer mehr nach rechts rückten. Mit der Politik hatte er jetzt mehr denn je zu tun, und es beunruhigte ihn, wenn ihm manchmal mitten in der Nacht bewußt wurde, den ganzen Tag nicht an Ada und Quinten gedacht zu haben. Sein Makler-Neffe hatte Sophias Haus inzwischen zu einem ordentlichen Preis an jemanden verkauft, der dort eine Snackbar eröffnen wollte, die Buchbestände aus dem Lob der Torheit waren von Kollegen übernommen, der überflüssige Hausrat von einem Auktionshaus und Brons’ Garderobe von der Heilsarmee abgeholt worden. Als sie die Umzüge hinter sich hatten und die Zimmer auf Groot Rechteren eingerichtet waren, fuhren Max und Sophia an einem warmen Morgen im Juli nach Amsterdam, wo sie Onno im Krankenhaus erwartete.
Die Schwestern konnten sich nur schwer von Quinten trennen. Man hatte ihn, als er nicht mehr im Brutkasten liegen mußte, neben Ada ins Bett gelegt – das engelsgleiche Kind mit den weit offenen blauen Augen neben Adas regloses, fast marmornes Gesicht mit den geschlossenen Augenlidern! Die Flutwelle unter dem Laken war verschwunden, und Max spürte, wie das Bild tief in ihn einsank und in seiner Erinnerung lebenslang aufgehoben sein würde. Als die Krankenschwester das Laken beiseite schlug und Quinten auf den Arm nahm, war für jeden offensichtlich, daß nun etwas Unwiderrufliches geschah, eine zweite Geburt, ein zweiter Abschied. Auch Ada würde das Krankenhaus verlassen, sobald ein Pflegeheim in der Nähe des Schlosses gefunden war.
»Darf ich ihn haben?« fragte die Krankenschwester mit Quinten im Arm. »So ein bildhübsches Kind habe ich noch nie gesehen. Wissen Sie, daß er seit der Geburt nicht ein einziges Mal geschrien hat? Was soll er kosten?«
Im Auto saß Sophia auf der Rückbank und hatte Quinten neben sich im Reisebettchen. Es wurde wenig gesprochen.
Wie Max dachte auch Onno an die verhängnisvolle Fahrt im Februar, zu der diese Fahrt in gewisser Weise das Gegenstück bildete, aber beide verloren sie kein Wort darüber. Als Onno auf dem Vorplatz von Groot Rechteren ausstieg, sah er sich um, warf sich in die Brust und sagte:
»In der Tat! Das ist die passende Umgebung für meinen Herrn Sohn! Zwar ist die Natur an sich debil, und der Feudalismus entspricht auch nicht ganz dem Charakter eines einfachen Mannes aus dem Volke, der wie ich als eingefleischter Sozialist ausschließlich an das Wohl der Entrechteten und Enterbten denkt, aber in diesem speziellen Fall wird die Parteiführung wohl ein Auge zudrücken.« Als Sophia vorsichtig das Reisebettchen aus dem Auto hob und ins Haus tragen wollte, sagte er: »Nein, Mutter, das mache ich. Das ist mein Privileg.« Er nahm die Henkel des Bettchens wie eine Einkaufstasche in die Armbeuge, hob eine Hand und rezitierte, als er die Eingangstreppe hinaufstieg, feierlich: »In nomine patris et filii et Spiritus sancti!«
Im Turmzimmer legte Sophia Quinten zum ersten Mal auf den Wickeltisch, um seine Windel zu wechseln, und Max zeigte Onno die Wohnung. In Sophias Wohn-Schlaf-Zimmer erkannte er zwar die cordbezogene Couch und den niedrigen Tisch wieder, sah jedoch sofort, daß hier, mit der Aussicht auf den Schloßgraben und den Wald, alles vollkommen anders wirkte. Das Porträt von Multatuli war offenbar beim Trödler gelandet. Als er durch die Zimmer ging, fragte er sich, was Max sich eigentlich bei alldem dachte, doch die Gelegenheit, mit ihm darüber zu sprechen, war vorbei. Seine Möbel standen vor allem im großen Balkonzimmer: der grüne Chesterfieldsessel, der Flügel, die Bücher. Auf dem Schreibtisch wieder die Reihe kleiner Instrumente, die durch ihre Kombination und genaue Anordnung zu Symbolen geworden waren. Obwohl Onno all diese Dinge kannte, hatten auch sie hier eine andere Ausstrahlung. Als er fragte, ob denn die Miete nicht astronomisch hoch sei, antwortete Max, daß sie kaum mehr als die Hälfte dessen ausmache, was er in Amsterdam bezahlt habe.
Die Bücher des ›Ehrenregals‹ standen jetzt auf dem Kaminsims. Kafk a war aus der Reihe verschwunden, statt dessen bemerkte Onno jetzt ein Exemplar von Turgenjews Väter und Söhne und daneben ein Foto von Ada und ihm, das Bruno voriges Jahr in Havanna aufgenommen hatte, und ein zweites, altes, im Rahmen. Er sah sofort, daß es ein Foto von Max’
Eltern war. Ohne etwas zu sagen, sah er ihn an.
Max
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