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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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bot er ihm an, ihn in seinem Auto mitzunehmen, da er dort ebenfalls zu tun habe. Plötzlich war es heraus, endlich würde er hinfahren, mit Sophia und Quinten. Während der langen Abende auf dem Schloß hatte er Sophia von Westerbork und von seinem Leben erzählt – mehr, als er je ihrer Tochter erzählt hatte, vielleicht weil es das »Sie« ihm aus irgendeinem Grund leichter machte als das »Du«.
    Eine dreiviertel Stunde später fuhren sie los. Sophia, die mit dem Kind auf dem Rücksitz saß, vermutete richtig, daß der Unfall auf dieser Landstraße passiert war; als sie an der Stelle vorbeifuhren, sah Max nur mit einem schnellen Blick aus den Augenwinkeln hin. Die Lücke, wo die Bäume gestanden hatten, war nun durch zwei junge Erlen aufgefüllt worden, die von Holzpfählen gestützt und mit schwarzen Gummistreifen in Form einer Acht gesichert waren. Es wurde nicht gesprochen, der Ingenieur blätterte in seinen Unterlagen auf dem Schoß, Quinten war eingeschlafen, und plötzlich mußte Max an seinen Spaziergang durch die klamme, polnische Hitze von Auschwitz I nach Auschwitz II denken, vielleicht als Gegenstück zu der Strecke Dwingeloo-Westerbork. Er spürte ein Gefühl der Übelkeit in sich aufsteigen, das nicht nur von dieser Erinnerung herrührte, sondern auch von dem, was dahinterlag. Wochen- und monatelang hatte er nicht daran gedacht, aber immer wieder tauchte es unverändert auf, jedoch ohne den Zerfall, dem sogar radioaktives Material ausgesetzt war.
    »Du mußt hier rechts abbiegen«, sagte der Ingenieur, als sie das Dorf Hooghalen erreichten.
    »Entschuldige, ich bin zum ersten Mal hier.«
    »Das darf ja wohl nicht wahr sein.«
    »Doch, es ist wahr.«
    »Interessierst du dich eigentlich wirklich für Astronomie?«
    »Wer weiß?«
    Er sah ein Schild, das den Weg zu dem Nachbardorf Amen wies – als ob die ganze Gegend auf das hin präpariert worden wäre, was dort einmal geschehen würde –, und dann ein Hinweisschild nach Schattenberg. Er bog in einen Waldweg ein, der auf der rechten Seite von verrosteten Eisenbahnschienen gesäumt wurde. Ab und zu fuhren sie an Ambonesen in traditionellen indonesischen Gewändern vorbei, die bis zum Boden reichten und wegen des holländischen Winters um Wollschals und Mützen ergänzt worden waren, und manchmal sogar an ganzen Familien, deren Mitglieder nicht nebeneinander, sondern hintereinander hergingen, der Vater voran, das jüngste Kind zuletzt. Und schlagartig wurde Max bewußt, daß die Schienen, die an der Straße entlangführten, von den Deutschen angelegt worden waren und in Birkenau endeten.

    Bei einer Schranke am Stacheldrahtzaun hielt er an, stieg wortlos aus und betrachtete mit angehaltenem Atem das Lager. Von den Plänen und Pausen, die er in Leiden und Dwingeloo öfter vor sich liegen gehabt hatte, wußte er, daß sein Grundriß ein Trapez von etwa einem halben Kilometer Länge und einem halben Kilometer Breite bildete. Was er sah, war ein großer, waldgesäumter Platz, die eisige Luft voller winziger Nadeln, die im Sonnenlicht glitzerten; auf dem Gelände Reihen verfallener Baracken, die ebenso rechtwinklig zueinander angeordnet waren wie in Birkenau – ein unmenschliches Muster, das auch als Vorbild für die Wohnviertel der Nachkriegszeit gedient zu haben schien. Aus manchen Schornsteinen kam Rauch, aber die meisten Unterkünfte waren offenbar nicht mehr bewohnt, einige wenige waren abgebrannt und hier und da auch einfach verschwunden. Nicht weit vom Zaun spielten Kinder, und irgendwo fuhr jemand Fahrrad, der sicher viel darüber zu erzählen hatte, was sich während der japanischen Besatzung in Indonesien abgespielt hatte, aber nichts von dem wußte, was sich hier zugetragen hatte.
    Die Schienen vor ihm führten bis zum Ende des Lagers – parallel dazu, etwas weiter rechts, wie – ja, wie was? – wie eine Vision, eine Fata Morgana, wie ein Traumbild, über eine Länge von anderthalb Kilometern, stand eine Reihe gigantischer Parabolantennen, die auf der einen Seite in das Lager hineinführten und es auf der anderen Seite wieder verließen.
    Seine Augen wurden feucht. Hier, am Arsch der Niederlande, erflehten sie in der totalen Stille wie große Weihwasserbecken den Segen des Himmels. Im selben Augenblick spürte er, wie der Druck von ihm abfiel, der nun schon seit einigen Jahren auf ihm lastete: hier, an diesem verfluchten Ort, würde er arbeiten. Plötzlich wußte er keinen anderen auf Erden, an dem er lieber gearbeitet hätte. War hier nicht

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