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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Spiegel wie ein einziges riesiges Teleskop mit einem Durchmesser von anderthalb Kilometern betrachtet werden müßten, es sei das größte Teleskop der Welt. Und nun gehe es darum, daß diese Spiegelreihe durch die Rotation der Erde, vom All aus betrachtet, nach einem Vierteltag senkrecht zu ihrer Ausgangsposition stehe, und nach einem halben Tag in der entgegengesetzten; indem man einen halben Tag lang die Radioquelle aufnehme, erhalte man die Synthese, die man haben wolle.
    »Das versteht doch jedes Kind.«
    »Ich höre es dich sagen, aber ich kann mir nichts darunter vorstellen«, sagte Sophia, während sie Quintens wackelnden Kopf hielt und ihm den Mund abwischte.
    Vom Schreibtisch nahm er eine Radiokarte und fragte einen Techniker: »Was ist das?«
    Abwesend warf der einen Blick darauf.
    »M 51.«
    »Hier«, sagte Max und zeigte es ihr. »So sieht das aus. Der Spiralnebel im Sternzeichen Jagdhunde. Vor dreizehn Millionen Jahren.«
    Aber es war Quinten, der das Papier mit beiden Händen packte und das spitze Hochgebirge gewellter Intensitätslinien einer genauen Inspektion unterzog.
    »Ich bin mal gespannt, was er uns beibringen wird«, sagte der Direktor mit hochgezogenen Augenbrauen.
    Als Quinten das Blatt zurückgegeben hatte, ohne es zu zerknittern, nahm Sophia ihn liebevoll in den Arm und sagte: »Was für ein merkwürdiges Kind du doch bist. Ganz wie dein Vater.«
    Die Art, wie sie von Anfang an mit Quinten umging, zeigte eine ganz andere Seite ihres Wesens, über die sich Onno bei seinen sporadischen Besuchen gewundert hatte, die Max aber aus der Art, wie sie sich nachts ihm selbst gegenüber verhielt, nicht unvertraut war. Doch Quinten war nicht erbaut von der Liebkosung und wand sich würdevoll heraus. Max sah ihm gedankenverloren zu und sagte:
    »Ich gehe kurz an die frische Luft.«
    Er band sich einen Schal um, steckte die Hände in die Taschen und spazierte auf das Gelände. Noch immer war die Luftmit den zauberhaft schwebenden, leichten Eiskristallen erfüllt.
    Er hatte das Bedürfnis, allein zu sein, um sich der Veränderung, die er soeben erfahren hatte, bewußtzuwerden. Von irgendwoher wehte der vage Duft indonesischen Essens; in einem verwahrlosten Garten hinter einer Baracke reparierte ein Junge ein Fahrrad. Aus den Plänen, erinnerte er sich, war ersichtlich, daß für die Spiegel eine Reihe von Krankenbaracken abgerissen worden waren. Das Lager war nicht mehr identisch mit dem, das es im Krieg gewesen war, aber auch wenn alles verschwinden würde: es wäre dennoch und bis in alle Ewigkeit dieser Ort. Die Villa, nicht weit von der Schranke, an der er vorhin ausgestiegen war, war das Haus des Lagerkommandanten gewesen. Es war noch bewohnt, an den Fenstern hingen Vorhänge und auf den Fensterbänken standen Pflanzen. Auf dem Weg, der an den Gleisen entlangführte und damals Boulevard des Misères genannt wurde, spazierte er Richtung Osten.
    Als er Sophia vorhin von der exakten Ost-West-Geraden erzählt hatte, war ihm das gleichschenklige polnische Dreieck Bielsko-Katowice-Krakow seines Vaters eingefallen, das ebenfalls exakt nach Osten zeigte, mit Auschwitz in seinem Mittelpunkt. Es bedeutete alles nichts, aber es war so, und als er sich die Karte von Drenthe vorstellte, war es wieder so: ein gleichseitiges Dreieck mit dem Lager Westerbork in der Mitte.
    Hier, an diesem Weg, vielleicht genau an der Stelle, wo er jetzt ging, war seine Mutter unter der Aufsicht des Lagerkommandanten in einen Viehwaggon gestiegen, jemand hatte die Tür geschlossen und den Riegel vorgeschoben. Hier hatte sie ihre letzte Reise angetreten. Er versuchte, dieses Bewußtsein mit dem, was er sah, in Einklang zu bringen, aber obwohl sich alles tatsächlich an diesem Ort zugetragen hatte, unterschied sich beides so sehr voneinander wie ein Gedanke von einem Stein. Die Straße war verlassen, die Gleise waren leer, und es roch nicht nach gefillte Fisch, sondern nach Nasi Goreng. Es ist die Zeit, dachte er, die alles zerfetzt. Er sah sich um: der stille, majestätische Einzug der Spiegel in das Lager. Von irgendwoher drang das Klopfen eines Spechts.
    Er war sich ganz sicher, hier gehörte er hin, hier mußte er sein Leben verbringen. Er ging weiter, zum anderen Ende des Lagers, wo die Gleise an einem morschen Prellbock endeten, hockte sich nieder, legte seine Hand auf das verrostete Eisen und sah wieder die Reihe der Antennen, die alle auf denselben Punkt am Himmel gerichtet waren. Und plötzlich dachte er an den gelben Stern,

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