Die Entdeckung des Himmels
Pontrhydfendigaid.
Kern hatte sich inzwischen rittlings auf einen Stuhl gesetzt und auf die Lehne vor sich ein Stück dicken Karton gelegt, auf dem mit Hilfe einer Klammer ein Blatt Papier befestigt war. Während er Sophia und das Kind keine Sekunde aus den Augen ließ, machte er große, skizzierende Bewegungen und strich nur mit der unteren Seite der Hand über das Papier. In den Fingern hielt er einen Kohlestift, dem aber noch nicht erlaubt wurde, eine Spur zu hinterlassen. Es fehlte offenbar noch ein Befehl aus der Welt des Guten, Schönen und Wahren: daß der Moment des Unwiderruflichen angebrochen war.
36
Das Monument
Wer frei ist, überlegte Max eines Nachmittags im Herbst, als er auf seinem Balkon stand und die sich gelb färbenden Bäume betrachtete, kann sich nicht vorstellen, je eingesperrt zu sein, genausowenig wie ein Gefangener sich wirklich die Freiheit vorstellen kann. Die Trägheit der Masse hat ihr Pendant in der Trägheit des Geistes: alles, was in einem bestimmten Augenblick nicht der Fall ist, hat den Charakter eines Traumes. Die Folge ist, daß die Geschichte zwar in Büchern zu finden ist, aber kaum außerhalb – und was sind schon Bücher? Kleine Gegenstände, Dinge, die selten größer sind als ein Ziegelstein, nur leichter und fast unauffindbar zwischen den Myriaden anderer Dinge, die die Erdoberfläche bedecken, und obendrein auf dem besten Wege, von Tag zu Tag unbedeutender zu werden in der immer schneller aus lauter Codes sich speisenden elektronischen Welt. Alles beschleunigt sich, und was geschehen ist, hätte genausogut auch nicht geschehen sein können. Träume sind nach dem Aufwachen nur ein paar Minuten lang greifbar und dann vergessen. Wo war die Schlacht bei Verdun heute, außer in fast unauffindbaren und auf jeden Fall ungelesenen Büchern und in der Erinnerung einer Handvoll alter Männer, die in zwanzig Jahren mitsamt ihren Alpträumen und Narben begraben sein würden? Wo war die Schlacht von Stalingrad? Der Bombenangriff auf Dresden?
Hiroshima? Auschwitz?
Im Winter 1968, ein halbes Jahr nach dem Einzug in Groot Rechteren, ging er zum ersten Mal zum Lager Westerbork.
Die zwölf Spiegel waren inzwischen fertiggestellt, ebenso die Computerprogramme, und es liefen bereits die ersten Experimente. Wirklich notwendig war sein Kommen nach wie vor nicht, aber in Leiden, wo er noch regelmäßig zu tun hatte, fragte ihn der Direktor eines Tages mit einem kleinen Befremden, ob er sich seinen neuen Arbeitsplatz denn noch immer nicht angesehen habe.
Es geschah schließlich an jenem Tag, an dem er Sophia die Sternwarte von Dwingeloo zeigte. Während sie sich auf Groot Rechteren einrichteten, hatte sie zwar einige Male dort übernachtet, aber die Sternwarte noch kein einziges Mal besichtigt, technische Dinge interessierten sie nicht. An einem klaren, kalten Vormittag brachte er sie dazu, Quinten dick einzupacken und ihn zu begleiten. Warum er das wollte, wußte er selbst nicht genau. Er zeigte ihr die Gebäude und den Spiegel und dachte dabei ständig an jenen Tag mit Ada und Onno, der jetzt ein dreiviertel Jahr zurücklag, aber er sprach nicht darüber, und Sophia fragte ihn nicht danach. Viel hatte sich seitdem nicht verändert, nur daß man jetzt überall über ausgemusterte Schreibmaschinen mit aufgewickelten Kabeln stolperte und in den Büroräumen Computerbildschirme standen.
Quinten saß während der Führung mit ernster Miene auf Sophias Arm und sah sich mit seinen blauen Augen um wie jemand, der mit dem Lauf der Dinge nicht unzufrieden war. Er war jetzt sieben Monate alt und hatte noch niemals geschrien, aber auch noch nie gelacht und eigentlich überhaupt kaum je einen Laut von sich gegeben. Sophia machte sich manchmal Sorgen, daß er durch den Unfall vielleicht doch irgendeinen Schaden genommen haben könnte, aber der Arzt versicherte, es handle sich bei ihm offenbar um ein außergewöhnliches Kind, es deute jedoch nichts weiter daraufh in, daß er sich nicht normal entwickle.
In der Kaffeepause, als alle Mitarbeiter in der Halle des Hauptgebäudes um den Wagen mit dem glänzenden Kaffeekessel standen, unterhielt sich Max mit dem Elektroingenieur, der für die Vernetzung des Synthese-Radioteleskops zuständig war und gleich mit dem Pendelbus nach Westerbork fahren wollte, weil dort wieder einmal eine Kinderkrankheit im System Probleme mache. Er sprach so leise und schüchtern, daß Max ihn in dem Stimmengewirr kaum verstehen konnte. Einer plötzlichen Eingebung folgend,
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