Die Entdeckung des Himmels
– das heißt, neben seiner Zeitung stand jedesmal ein Teller mit vier oder fünf Fleischkroketten, zu denen er vier oder fünf Gläser Milch trank. Gemüse aß er nie: »Salat ist für Kaninchen.« Zu seinem Körper schien er nicht das geringste Verhältnis zu haben, vielleicht war er deshalb so gewaltig anwesend; seine Mahlzeiten waren ebenso schmuddelig wie seine ungeputzten Zähne und seine Kleider.
Als sein Gesicht einmal troff vor Schweiß, sagte Max: »Onno, du hast Fieber« – woraufh in Onno sich über die Stirn strich, seine glänzende Hand betrachtete und sagte: »Verdammt, du hast recht!« – um es in der nächsten Sekunde wieder zu vergessen. Max hingegen saß zu festen Terminen im Wartezimmer seines kommunistischen Hausarztes und stierte auf das große Foto streikender belgischer Arbeiter mit Baskenmützen, die sich Auge in Auge mit einem schwerbewaffneten Zug von Soldaten gegenüberstanden, doch es fehlte ihm nie etwas, von einem gelegentlichen Tripper einmal abgesehen; und so groß seine eingebildete Todesangst auch war, seine Krawatte war farblich immer auf seine Socken abgestimmt.
Einmal kam Max auf den Tod zu sprechen, was Onno sofort maßlos irritierte: »Über den Tod zu reden heißt, Zeit zu verschwenden. Solange du lebst, bist du nicht tot, und wenn du nicht mehr lebst, bist du nur für andere tot.«
Aber so meinte es Max nicht. Er sagte, er sei einerseits davon überzeugt, eines Tages unter schrecklichen Schmerzen an einem Herzinfarkt zu sterben, andererseits jedoch sei er möglicherweise unsterblich. Jeder könne nämlich seine Lebenserwartung errechnen aufgrund des Alters, in dem seine Eltern gestorben seien: zusammenzählen und dann durch zwei teilen. Seine beiden Eltern seien eines gewaltsamen Todes gestorben; wäre das nicht passiert, wären sie möglicherweise unsterblich gewesen. Und weil, nach Cantor, unendlich plus unendlich geteilt durch zwei ebenfalls unendlich sei, sei die These damit bewiesen.
»Äußerst peinlicher Denkfehler für einen Naturwissenschaftler«, sagte Onno. »In Wirklichkeit hast du eine fünfzigprozentige Chance, umgebracht zu werden, und eine fünfzigprozentige Chance, hingerichtet zu werden, das heißt, es ist zu hundert Prozent sicher, daß du einen gewaltsamen Tod sterben wirst.«
Sobald die Kroketten verzehrt waren, spazierten Max und Onno in die Stadt, wo die winterliche Kälte aus der Luft gewichen war. Manchmal gingen sie ins Kino, in einen James-Bond-Film oder in den neuesten Stanley Kubrick, 2001: A Space Odyssey , in dem ein Computer, »HAL« genannt, die Macht in einem Raumschiff übernahm. Als sie wieder auf der Straße standen – in dem ausgelaugten Zustand, in dem man dann draußen auf die Realität stößt wie auf eine graue Feile –, fragte Onno, warum dieser Computer nach Max’ Meinung »HAL« heiße. Wegen der Assoziation mit »hell«, schlug Max vor. Daran hatte nun Onno wieder nicht gedacht, aber Max solle doch von den Buchstaben H, A, und L jeweils einen Buchstaben im Alphabet weiterzählen.
»I«, sagte Max, »B, M. IBM! Hut ab!«
Onno machte eine bescheidene Miene.
»Es ist eine Gabe.«
Als sie irgendwo eine Tasse Kaffee tranken mitten im Gekreische von Little Richard aus der Jukebox, behauptete Onno, daß sein Blick für solche Dinge eine Folge seiner kalvinistischen Erziehung sei, eine Folge des Bibellesens, »die ganze Heilige Schrift «. Die Wahrheit könne für ihn nur im Geschriebenen liegen und beispielsweise nie durch ein Teleskop gesehen werden. Dieses anspruchsvolle Lesen hätten die Kalvinisten mit den Juden gemein: Katholiken läsen nie in der Bibel, besäßen meistens nicht einmal eine, alles Analphabeten. Außerdem hätten die Kalvinisten es mehr mit dem Alten Testament, im Gegensatz zu den Katholiken, die, Gipfel der Primitivität, die Texte aus dem Neuen Testament dann auch noch sangen. Als die Juden verfolgt wurden, seien die Kalvinisten deshalb auch wesentlich öfter in den Widerstand gegangen als die Katholiken, die im übrigen die Erfinder des Antisemitismus seien, ebensooft wie die Kommunisten, die die Wahrheit auch aus einem Buch hätten, nämlich von Marx, ebenfalls einem Juden.
Es war Max, als ob er die Argumentation seines Freundes durch die Luft schweben sah wie die lange Peitsche eines Dompteurs. Und dann brachte sie ihn darauf:
»Ist dir schon einmal aufgefallen«, fragte er, »daß das Gebiet des Protestantismus mit dem glazialen Gebiet während der Eiszeit zusammenfällt? In den Niederlanden
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