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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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verläuft die Grenze genau in der Mitte: wo das Eis war, befindet sich das protestantische Territorium, bis nach Hammerfest, und wo das Gras wuchs, das katholische, bis nach Palermo. Und wo wohnte Calvin?« fiel ihm plötzlich ein. »In der Schweiz! Das einzige protestantische Land im katholischen Gebiet, wo es noch immer Gletscher gibt!«
    »Mich schaudert’s«, sagte Onno. »Mir läuft es kalt den Rükken hinunter. Nur jemand, der kein Niederländer ist, kann eine so schändliche Entdeckung machen. Vade retro , Satan!
    Du gehörst hier nicht her.«
    »Wo gehöre ich dann hin?«
    Onno machte eine weite Bewegung mit dem Arm.
    »In den Weltraum. Du betrachtest die Niederlande vom Weltraum aus, wie ein Astronaut; aber ich stecke mittendrin, erfroren im kalvinistischen Eis, wie ein Mammut. Zwinge mich nicht zu reden. Die Niederlande gehören mir, und nicht so einem verirrten zentraleuropäischen Forstmeister wie dir.«
    Es stimmte. Max konnte sich keine Vorstellung davon machen, wie man sich fühlte, wenn man Teil eines Volkes war, einer Nation, einer Rasse, einer Religion – kurzum, wenn man nicht allein war. Er war Niederländer, Österreicher, Jude, Arier, alles zugleich und deshalb nichts von alledem. Er gehörte ganz und gar zu denjenigen, die nirgends dazugehörten.
    »Ich fühle mich genauso niederländisch«, sagte er, »wie Spinoza.«
    »Warum gerade Spinoza?«
    »Aus verschiedenen Gründen. Unter anderem deshalb, weil er Linsenschleifer war.«
    Ihr ununterbrochener Strom von Theorien, Witzen, Betrachtungen und Anekdoten bildete nicht das eigentliche Gespräch: das eigentliche Gespräch fand darunter statt, ohne Worte, und handelte von ihnen selbst. Manchmal wurde es über einen Umweg sichtbar, wie früher der Schwarm Heringe, den die Nordseefischer durch den silbrigen Widerschein an den Wolken entdeckten.
    In einem Café im Zeitungsviertel, in dem die Journalisten der Morgenzeitungen und immer noch die der Abendzeitungen saßen und er seinen ersten Cola-Rum bestellte, erzählte Onno einmal vom Gilgamesch-Epos: der ältesten Geschichte der Menschheit, im vorigen Jahrhundert vom Kollegen Rawlinson entziffert und genau so lange vor Christi Geburt geschrieben, wie sie jetzt nach Christus hier saßen. Die Cheopspyramide stand bereits; aber Moses, der Trojanische Krieg, das alles würde noch kommen. Diese allererste Geschichte war eine Erzählung über eine Freundschaft. Der babylonische König träumte von einem unruhestiftenden Beil, in das er sich verliebte und auf das er »sich legte wie auf eine Frau«. Seine Mutter, offenbar durchdrungen von den Freudschen Lehren, deutete dieses Beil als Mann, auf den er sich lege wie auf eine Frau. Kurz darauf war er da: Enkidu, ein gezähmter Naturmensch, mit dem er auszog und das Monster Chuwawa tötete.
    Aber diese Tat führte schließlich auch zum Tode Enkidus. In seiner Verzweiflung machte sich Gilgamesch auf die Suche nach dem Unsterblichkeitselixier, und als ihm das schließlich von einer Schlange geraubt wurde, schickte er sich wie eine Candide avant la lettre schließlich in das Unvermeidliche und fand seine Lebenserfüllung als Baumeister der Mauern von Uruk.
    »Wunderbar«, sagte Max. »Warum weiß ich das alles nicht?
    Warum liest das keiner?«
    »Weil nicht jeder mich kennt.«
    »Ein schreckliches Los, dich nicht zu kennen.«
    »Allein schon der Gedanke erscheint mir unerträglich.«
    »Ich habe ja auch lange in dieser Hölle gelebt.« Mit der vorab berechneten Präzision von jemandem, der zuviel getrunken hat, ließ sich ein Mann auf einen Stuhl an ihrem Tisch fallen.
    »Darf ich fragen, worüber les boys sich unterhalten?«
    Mit Ekel sah Onno in das zynische Gesicht des Journalisten.
    » Natürlich nicht. Das würde dich auf fatale Weise mit deiner abgrundtiefen Nichtswürdigkeit konfrontieren, du Tagelöhner. Dein historisches Bewußtsein reicht nicht weiter als die Abendzeitung von gestern, aber wir – wir überblicken Äonen ! Wirt!« rief er zu einem Bodybuilder, der hier Ober war.
    »Große Bestellung! Noch einen Cuba-Libre und einen frisch gepreßten Orangensaft!«
    Max beugte sich vertraulich zu dem Mann ihm gegenüber vor. »Ich persönlich kann dich ja leiden«, sagte er leise. »Aber wie kommt es, daß dich alle anderen nicht mögen?«
    Der Mann starrte ihn kurz an, um die Beleidigung zu verarbeiten. Dann schoß er vor und packte Max am Revers; vielleicht wollte er ihn über den Tisch ziehen, aber während Max seinem Griff hilflos ausgeliefert war,

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