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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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auch nicht ganz sicher sein, wer der Vater ist, aber eines ist immer zu hundert Prozent sicher: daß sie die Mutter ist.«
    »Das zeugt von einer tiefen Einsicht in die spezifische Lügenhaftigkeit des Weibes an sich.«
    Max lachte auf.
    »Bist du etwa verheiratet? Hast du Kinder?«
    Onno war froh, daß die dunkle Wolke verscheucht wurde.
    »Kinder! Ich und Kinder! So grausam bin ich nun auch wieder nicht. Ab und zu wohne ich bei einer Freundin, wenn du das wissen willst. Auch eine gute Seele, die Brot streut.« Er beschloß, nicht nach Max’ erotischem Status zu fragen, denn auch der war vermutlich zu schrecklich, um darüber zu reden. »Übrigens, sagtest du nicht, daß du im Jahr 1942 neun Jahre alt wurdest? Dann sind wir gleich alt. Wann hast du Geburtstag?«
    »Am siebenundzwanzigsten November.«
    »Ich am sechsten. Ich betrachte dich also von jetzt an als meinen jüngeren Freund, der noch viel von mir lernen kann.
    Oder, warte mal …« Er blieb stehen. »Ich wurde drei Wochen zu früh geboren: dann sind wir also am selben Tag gezeugt worden!«
    Überrascht sahen sie einander an.
    »Im selben Augenblick!« rief Max.
    Beide, sowohl der Autofahrer als auch der Anhalter, hatten mit einem Mal das Gefühl, als ob sie jetzt die Erklärung für den Schock ihres Erkennens gefunden hatten – als ob sie einander schon immer gekannt hätten. Feierlich reichten sie sich die Hand.
    »Nur der Tod kann uns noch trennen«, sagte Max in erhabenem Ton, den er mit Winnetou und Old Shatterhand assoziierte. Im selben Moment dachte er an die Blutsvermischung in den Indianerbüchern: jeder machte sich einen Schnitt in den Finger, und dann wurden die Wunden aufeinandergedrückt.
    Es lag ihm auf der Zungenspitze zu sagen: »Wir sollten eigentlich …«, aber er tat es nicht.
    Sie standen wieder vor seinem Haus in der noblen Vossiusstraat und verabredeten, einander am nächsten Tag anzurufen. Max bot an, ihn mit dem Auto nach Hause zu fahren, aber Onno lehnte ab. Während er im Davongehen seine Schlüssel hervorholte, sah Max ihm nach für den Fall, daß er sich umdrehen und ihm zuwinken würde. Als er dann am Schlüsselbund seinen Wohnungsschlüssel suchte, sah er in der Innenseite seiner linken Hand wieder die Kreise und Kreuze.

4
Freundschaft
    Wenn sie nicht gerade beruflich im Ausland waren, verging in den darauf folgenden Monaten kein Tag, an dem sie sich nicht sahen. Max war jemandem wie Onno nie begegnet, Onno nie jemandem wie Max, als selbsternannte Zwillinge hörten sie nicht auf, sich übereinander zu freuen. Jeder fühlte sich dem anderen unterlegen, jeder war Knecht und zugleich Herr, wodurch eine Art von Unendlichkeit entstand, wie zwischen zwei Spiegeln, die sich ineinander spiegelten.
    Wegen ihres unzertrennlichen Auftretens auf der Straße und in den Cafés und Kneipen wurde manchmal über sie gesprochen wie über »Homo-Intellektuelle«. Sie waren von Unverständnis und Mißtrauen umgeben, denn das war bedrohlich: zwei erwachsene Männer, die offenbar keine Homosexuelle waren, nichts miteinander gemein zu haben schienen und auf rätselhafte Weise gerade deshalb nahezu symbiotisch ineinander aufgingen. Wären sie nur Schwuchteln gewesen, hätte das niemanden weiter beschäftigt, dann wären sie eben ein verliebtes Pärchen gewesen. Aber so konfrontierten sie jeden mit einer Eigenart, die sich manchmal als unangenehme Mischung aus Mißgunst und Aggression äußerte: dann war der eine ein ewiger Student und der andere ein arroganter Widerling. Um diesen Eindruck zu neutralisieren, sprachen sie ganz offen darüber und setzten so noch eins obendrauf. Die Frage, was nun eigentlich war zwischen ihnen, würden sie später erörtern, wenn all die Tage in ihrer Erinnerung zu einem einzigen, für immer unvergeßlichen Tag zusammengeflossen sein würden. Auch die Griechen, wußte Onno, die die Grundlage für die westliche Kultur gelegt hatten, besaßen kein Wort für »Kultur«. Die Wörter entstanden erst, wenn die Sache verschwunden war.
    Jeder von ihnen hatte natürlich Freunde, die sich jetzt auch untereinander kennenlernten, aber zugleich wurden sie Max und Onno fremd, drifteten von ihnen weg und ließen sie mit einem gemeinschaftlichen Kopfschütteln zurück. Sie trafen sich meistens am Lesetisch im Café Américain, unter Jugendstillampen und umgeben von Wandmalereien mit Szenen aus Wagneropern; Max hatte meist schon in Leiden gegessen oder sich zu Hause schnell etwas zubereitet, während Onno noch bei seinem Diner saß

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